Date: Thu, 04 Jan 2018 18:15:41 -0500 From: Ernst Meyer To: Cristina Basili Subject: am 4. Januar 2017 (2) Liebe Cristiba Draußen vorm Fenster wirbelt der amtlich prophezeite Schneesturm, und drinnen, hinterm Fenster sitze ich am Rechner und komponiere den gestern prophezeiten Brief. Auch der geahnte Traum ist pünktlich beim Erwachen erschienen. Ich berichte ihn Dir aus jener wissenschaftlichen Gefühlsentfernung welche betreffs der Körper im Anatomiesektionssaal waltet, eine Gefühlsentfernung welche betreffs der Seelen die schamlosen Beschreibungen der Psychoanalyse ermöglicht. In diesem um nur eine Woche verspäteten Weihnachtstraum stand ich an einem Wochenbett, und beglückwünschte einen Mann der soeben ein Kind geboren hatte. Junge oder Mädchen? fragte ich ihn. Er sagte, Sieh doch nach. Das tat ich. Es war ein Mädchen. Erst hinterher hörte ich als Begleitmusik die Stimme der Altistin im "Messiah" mit dem Weihnachtsrezitativ: Behold, a virgin shall conceive and bear a son, and shall call His name Emmanuel, God with us.(Isaiah 7:14; Matthew 1:23) Dass eine Jungfrau ein Kind empfangen sollte scheint mir nicht mehr vereinbar mit der Ordnung der Natur, als dass es ein Mann wäre der mit diesem Wunder begnadet würde. Aus Anlass dieser Traumoffenbarung betrachte ich mich als Kandidat für die höchsten Ehren der von mir bisher so schnöde missachteten Frauenfreiheitsbewegung; denn dass es endlich als Weihnachtsgeburt, statt für Gottes Sohn für Gottes Tochter höchste Zeit geworden ist, darin, laut unserer früheren Korrespondenz über den allgemeinen Göttinnenmangel, stimmen Du und ich überein. Dass aber in diesem Traum nicht die Frau, sondern der Mann das Kind gebiert, ist die äußerste Schlussfolgerung des Anspruchs auf die Gleichheit der Geschlechter. Mit deiner Vermutung, dass ich in meinem Leben viel Zeit auf das Denken verwandt habe hast Du recht. Jedoch ist das Ergebnis dieser Bemühungen ein Vorgang den ich Entidealisierung nenne, ein dialektisches Herabsetzen des sprachlich Bestimmten zugunsten des empfindungsmäßig Erlebten. Die von mir heute erlebte Wirklichkeit lässt sich nicht mittels wissenschaflichen, oder auch künstlerischen Beschreibungen erschöpfen. Entidealisierung ist mitteilbar, wenn überhaupt, nur als Spiegelwirkung der Musik, der Dichtung, und der bildenden Kunst. In der düsteren Verworrenheit meines senilen Gedächtnisses, meine ich ein Gespräch Platons zu erinnern, - ich glaube es war der Sophist und bin zu faul es nachzulesen - wo die Frage aufgeworfen - und wie ich erinnere, bejaht wird - ob das in Worten benannte über Wirklichkeit verfügt. Ich bin anderer Meinung. Mir scheinen die Sprachgefüge in denen unsere Geistes- und Naturwissenschaften sich ergehen als vorläufige, veränderliche Gerüste mittels derer ein jeder von uns die Welt seiner Vorstellungen errichtet. Solche Sprachgefüge zwar zum Mitteilen unerlässlich, sind dennoch (manchmal, oft, immer?) Hindernisse die meinem Verstehen den Weg verbauen. So etwa ist "die Gesellschaft" eine Schlussfolgerung aus den mannigfaltigen Beziehungen die uns Einzelne mit einander verbinden. Die Problematik der sogenannten Gesellschaft ist mir zugänglich nur indem ich die einzelnen Umstände dieser Beziehungen einzeln bedenke. Ich bin mir eindringlich bewusst, in welchem Ausmaß mein Leben von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde von meinen Mitmenschen geprägt und abhängig ist, zugleich aber auch bewusst wie schwankend, bestimmt und doch unbestimmt, wie notwendig mir meine Unabhängigkeit von der Gesellschaft ist. Diesen Widerspruch mache ich mir zugänglicher mit der Vorstellung einer dynamischen, sich stets wechselnden Beziehung meiner selbst und anderer Einzelner zu seinen, bezw. ihren Mitmenschen, eine Beziehung die nicht in meiner Macht steht, in die mich zu fügen ich verpflichtet bin, und deren Sinnbild ich in der Überschrift zu erkennen meine: Dies ist Jesus der Juden König. hic est Iesus rex Iudaeorum. καὶ ἐπέθηκαν ἐπάνω τῆς κεφαλῆς αὐτοῦ τὴν αἰτίαν αὐτοῦ γεγραμμένην ΟΥΤΟΣ ΕΣΤΙΝ ΙΗΣΟΥΣ Ο ΒΑΣΙΛΕΥΣ ΤΩΝ ΙΟΥΔΑΙΩΝ. (Matthäus 27:37) Demgemäß empfinde ich dass mit dem Verständnis, der Widerspruch von Einzelnem und Gesellschaft nun als unentrinnbare Gegebenheit erscheint, unentrinnbar wie Krankheit und Tod. Das dritte Thema welches Dein Brief anschneidet sind die so geheimnisvollen und zauberhaften Beziehungen zwischen uns Menschen die im Allgemeinen so gründlich verschwiegen werden, dass ein jeder von uns nur von eigens Erlebtem zu erzählen weiß. In Deinem Brief schreibst Du: "Und dabei interessiert mich der Unterschied zwischen Männern und Frauen sehr. Denn ich denke männliche Liebe ist fast immer sexuell bedingt. Aber weibliche fast immer mütterlich." Was Du schreibst mutet mich an als eine Vereinfachung die ich nicht nachzuziehen vermag, denn ich kann lediglich aus eigenem Erleben berichten, dass ich, abgesehen von der frühen Kindheit als ich mir vorstellte mich mit meiner Schwester zu verehelichen, weil sie das einzige weibliche Geschöpf war vor dem ich mich nicht ängstigte, in meinen 87 Jahren nur zwei Frauen begegnet bin mit denen ich mir eine Ehe überhaupt vorstellen konnte. In den Briefen an meine Frau, als wir um einander warben, war ich es, der die Trennung von Körper und Seelen behauptete, und die Unio mystica der Seelen als Vorbedingung für jegliche körperliche Verbindung forderte; indessen meine Geliebte mir beteuerte, dass ihrem Erleben gemäß, keine Trennung zwische Körper und Seele bestünde und dass Schenkung von Seele und Geist zugleich geschehen könnten und müssten. Ich verstehe dass in der zeitgenössichen kulturlosen Welt, allenfalls aus männlicher Perspektive, die Beziehung zum Weibe als eine lediglich fleischliche erscheint, und es amüsiert mich, dass meine Abneigung gegen die herrschende Bordellatmosphäre mir als latente Homosexualität angerechnet wird. Das Wort Geschlecht der deutschen Sprache ist bekanntlich vieldeutig. Das Wort Sexualität aus der englischen Sprache mutet mich an als sehr undeutlich. Behauptete ich Sexualität würde mit den Goetheworten bestimmt: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche, Hier wird's Ereignis; Das Unbeschreibliche, Hier ist's getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan. wäre manches das anderweitig als sexuell gälte ausgeschlossen, und man würde mir einen Termin mit dem Psychiater anbieten. Einträglicher als sich mit dem Begriff Sexualität verulken und ins Bockshorn jagen zu lassen, scheint es mir sich um Liebe zu bekümmern, ein Wort das vieles verspricht und vieles verhüllt. Vor einem Jahr (am 14.1.2017) schrieb ich Dir: "Es ist zu früh dass wir über αγαπη, φιλια und/oder ερος diskutierten." Vielleicht jetzt. Bemerkenswert dass ein so breite Spektrum des Erlebens im Deutschen und Englischen in einem einzigen Wort Liebe, bezw. Love, zusammengefasst wird. Die Verkommenheit - oder Abwesenheit unsrer Kultur wird deutlich mit der Betrachtung des platonischen Eros die er im letzten Abschnitt des Gastmahls beschreibt. Faulheit von mir dass ich Wikipedia zitiere: Platonische Liebe ist eine Form der Liebe, die seit der Renaissance nach dem antiken griechischen Philosophen Platon (428/427 v. Chr. – 348/347 v. Chr.) benannt wird, weil ihre philosophische Begründung auf seiner Theorie der Liebe fußt und weil ihre Befürworter sich auf ihn berufen. Im modernen Sprachgebrauch hat aber der Ausdruck „platonische Liebe“ eine Bedeutung und Konnotationen, die mit dem ursprünglichen Konzept Platons wenig oder nichts zu tun haben. Platon sieht in der Liebe (Eros) ein Streben des Liebenden, das diesen stets vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Vereinzelten zum Umfassenden führen soll. Das geschieht der platonischen Theorie zufolge, wenn der Liebende Philosoph ist oder wird und als solcher auf eine von Platon beschriebene Weise mit der Liebe umgeht. Der im Sinne Platons Liebende wählt bewusst einen philosophischen Weg, der ihn zu immer höheren Erkenntnissen führen soll. Er richtet den erotischen Drang im Lauf eines gestuften Erkenntnisprozesses auf immer umfassendere, allgemeinere, höherrangige und daher lohnendere Objekte. Dabei erweist sich schließlich die allgemeinste auf diesem Weg erreichbare Wirklichkeit, die Platon als das Schöne an sich bestimmt, als das würdigste Objekt. Dort endet die Suche des Liebenden, denn erst dort findet er nach dieser Lehre vollkommene Erfüllung seines Strebens. Im modernen Sprachgebrauch hingegen drückt die Bezeichnung einer Freundschaft als „platonisch“ gewöhnlich nur aus, dass die befreundeten Personen kein sexuelles Interesse aneinander haben. Der Ausdruck wird auch für eine potenziell erotische Beziehung verwendet, bei der man freiwillig auf die sexuelle Befriedigung verzichtet oder umständehalber auf sie verzichten muss. Dabei kommt es nur auf den Verzicht als solchen an, nicht auf eine philosophische Motivation, Begründung oder Zielsetzung, die oft gar nicht vorhanden ist. Der Grund kann beispielsweise auch darin bestehen, dass die Fähigkeit oder Gelegenheit zu sexueller Betätigung fehlt oder diese unmöglich ist, da die geliebte Person ihr nicht zustimmt." Als ich Kind war hatte ich, aus Schutzbedürfnis, großes Verlangen nach der Eltern Liebe. Während ich älter wurde erfuhr ich, dass diesem Verlangen niemals benügt werden würde, und dass ich den Schutz der Liebe nur empfangen würde, insoweit ich selber als Liebender der Ursprung der Liebe würde. Und nun, je älter ich werde, desto mehr empfinde ich die Notwendigkeit zu lieben, weil mir meine Liebe und nur meine Liebe die Wirklichkeit meiner Existenz verbürgt. Am Besten ist's, wenn der oder die Geliebte, von meiner Liebe gar nichts weiß, geschweige denn, dass ich Erwiderung erheischte. Besonders im hohen Alter, wenn der Tod näher und näher rückt. Vor hundert Jahren, als die Tuberkulose so oft den jungen Menschen dem Leben entriss, kam es nicht selten vor, dass sich eine junge Frau in einen jungen Mann verliebte, der starb eh die Liebe in einer Ehe vollendet wurde. Dies war das Schicksal meiner Mutter die sich in einen gleichaltrigen Schriftsteller, Hans Georg Schick verliebte. Hans Georg starb an Tuberkulose, und meine Mutter fand dann in meinem Vater einen Menschen der bestrebt war Hans Georg so ähnlich zu werden dass es ihm möglich würde Hans Georg im Leben meiner Mutter zu ersetzen. Anders das Schicksal der Mutterschwester meiner Frau, Virginia Randolph Grace, die sich in einen mir anderweitig unbekannten Fred Schaefer verliebte, der auch alsbald an Tuberkulose starb. Virginia aber blieb dem Gedächtnis an ihren Geliebten treu. Sie blieb unverheiratet und ließ ihre Liebe in ihre Arbeit fließen. Sie war Archäologin von Beruf, zog nach Athen, und wurde Spezialistin im Datieren von Amphora. Ihr Urteil über die Zeit von Ausgrabungen mit Amphora wurde ihren Kollegen unentbehrlich. Was nun Deine Beziehung zu mir anbelangt, weiß ich dass Du mich um sechzig oder siebzig Jahre, oder mehr überleben wirst. Ich weiß auch das was von mir in Deinem Gedächtnis überlebt, dann, mit meinem Tode, zeitlos wird, und ich befürchte dass die Erinnerung an mich Dich dann vielleicht von einer Ehe mit einem anderen abhalten möchte, weil Du keinen wie mich, - den mein Vater als einen eingebildeten Frosch bezeichnete - je finden wirst. Dann würde ich erst mit dem letzten Ton Deines Cellos verklingen. Wenn ich mich recht besinne war es Kierkegaard der in Entweder/Oder erklärte. Heiratest du, so wirst du es bereuen. Heiratest du aber nicht, du wirst es auch bereuen. Ob du heiratest, oder ob du nicht heiratest, du wirst es bereuen. Ich aber rate Dir, bereue niemals, in den Worten Vergils, perge modo, et qua te ducit viam, dirige gressum. (Geh nur voran und wo immer der Weg dich leitet, richte deine Schritte.) Worauf es in der Ehe ankommt, ist nicht die Befriedigung fleischlicher Bedürfnisse, - die ist auch anderweitig möglich. Worauf es ankommt sind die menschlichen Beziehungen die sich aus der Gründung der Kerngesellschaft, der Familie ergeben. Dass diese Beziehungen nicht einwandfrei sind und stets unvorhersehbare Problematik nachschleppen, ist Dir aus eigener Erfahrung bekannt. Auch erwähne ich, obgleich ich weiß dass Du mir nicht glaubst, dass keiner von uns einen freien Willen hat, dass keiner von uns die Macht hat in sein Schicksal einzugreifen, und dass du überleben wirst, was auch immer geschieht, weil das einzig Lebensnotwendige, die Liebe zu anderen Menschen, zur Kunst, und zu Gott, Dir nicht genommen werden kann. Dein Jochen