Lieber Herr Nielsen, Dank für den Hinweis auf das SWR Gespräch (von 2008) mit Aharon Appelfeld. Zwar ist's mir nicht gelungen eine Video-Übertragung einzuschalten, doch vermochte ich mir das Gespräch mit Barbara Dobrick anzuhören. Einige Worte sind mir entgangen, aber das Wesentliche, glaube ich, hab' ich verstanden: und was ich verstand, so scheint es mir, lässt sich an bestem in Rilkes Worten bezeichnen: "Das was geschieht hat einen solchen Vorsprung vor unserm Meinen, dass wir's nie einholen, und nie erfahren, wie es wirklich aussah." (Requiem) Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin keineswegs kritisch; ich versuche zu verstehen; Verständnis und Kritik, wie mir scheint, schließen einander aus. Ihr Hinweis auf Aharon Appelfeld und seine Erscheinung im SWR war - und ist - sehr anregend für mich. Um das Thema so gut wie möglich festzustellen und festzuhalten, erlauben Sie mir die Wiedergabe der SWR Meldung: ==================== SWR2 Zeitgenossen - Zum Tod des Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden Aharon Appelfeld, Schriftsteller Im Gespräch mit Barbara Dobrick Er gehörte zu den wichtigsten Stimmen der israelischen Literatur und zu den Zeugen des Holocaust, Aharon Appelfeld. Am 4. Januar 2018 ist er im Alter von 85 Jahren gestorben. Aus diesem Anlass ändert SWR2 sein Programm und wiederholt eine Aufzeichnung aus dem Jahr 2008. Aharon Appelfeld wurde 1932 in Czernowitz in der Bukowina geboren, als einziges Kind gebildeter, wohlhabender und assimilierter Juden. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 wurden Appelfelds Mutter und Großmutter ermordet. Der Junge und sein Vater wurden in einem viele Wochen dauernden Marsch in ein Ghetto gezwungen. Dort verlor der 8-Jährige seinen Vater und gelangte in die Wälder. Er überlebte als Gehilfe Krimineller und kam schließlich 1946 nach Palästina. Ein Jahr nur war er zur Schule gegangen und seine Muttersprache Deutsch hatte er nahezu vergessen. In Israel lernte er Hebräisch, holte die fehlende Schulbildung nach, studierte und wurde Professor für Hebräische Literatur. Barbara Dobrick hat Aharon Appelfeld 2008 in Berlin getroffen und mit ihm über seinen Lebensweg, seine Bücher und sein Judentum gesprochen. ================= Lieber Herr Nielsen, Es passiert nicht oft, aber von Zeit zu Zeit, wenn ich Bilder von Konzentrationslagern sehe, oder von Folterkammern, wenn ich bedenke was wir Menschen - nein nicht was wir Menschen einander angetan haben, sondern schlimmer noch, was wir Menschen einander antun, und fortfahren einander anzutun, und fortfahren werden einander anzutun - dann, obgleich ich mir vorgenommen habe die Fassung zu wahren, und mich zu keinen Gefühlsäußerungen hinreißen zu lassen, treten mir Tränen in die Augen und ich schäme mich meiner Unfähigkeit meine Gefühle im Zaum zu halten. Auch die Sprache ist hilflos. "Schrecklich", "Fürchterlich", "Entsetzlich", so oft wiederholt, und wie mir scheint abgestumpft fast bis zur Unbrauchbarkeit. Beim Anhören von Barbara Dobricks Gespräch mit Aharon Appelfeld war es mir als lauschte ich einer Reiseführerin auf einem Friedhof die den verschiedensten Besuchern berichtet wer wo begraben liegt, ohne zu fragen "Kannten Sie ihn?" "Waren Sie mit ihm befreundet?" "Waren Sie vielleicht sogar mit ihm verwandt?" Auch das erwähne ich ohne jegliche Kritik. Vor Jahren, am Anfang unsres Briefwechsels, führte ich Ihnen eins meiner Lieblingssteckenpferde vor, die biblische Geschichte vom Errichten der ehernen Schlange als Gegenmittel für Heilung vom Schlangenbiss, eine Geschichte die ich als Beschreibung der Entdeckung - oder Erfindung der Kunst deutete. Nicht nur das augenfällig Tragische, sondern auch das Schöne in der Kunst; wieder einmal ist's Rilke der uns belehrt: "Denn das Schöne ist nichts als des Schecklichen Anfang, und wir bewundern es so, weil es geassen verschmäht uns zu zerstören. (1. Duineser Elegie aus dem Gedächtnis) wirkt als Schutz gegen Zerstörung, Krankheit und Tod. Als Art eherne Schlangen mögen auch die etlichen entzetzten journalistischen Nachrufe auf den National-Sozialismus gedeutet werden, als Verhütungsmittel um uns gegen seine Wiederkehr zu feien, als Heilmittel um uns gegen das unbegreiflich Entsetzliche abzuhärten. Unter welchen Umständen wäre die Abhärtung erbaulich und ersprießlich? Unter welchen Umständen wirkt das "Mahnmal" statt den Schrecken wach zu halten, ihn "selbstverständlich" und harmlos zu machen? Das sind die Fragen welche Barbara Dobrick's schriftstelleriwsche Bemühungen um Aharon Appelfeld bei mir hervorrufen. Wäre im Rahmen der Ästhetik dieses Gespräch in die Tragödienreihe einzustufen? Aristoteles verlangt von der Tragödie durch Erbarmen und Furcht die Reinigung der von ihr dargestellten Leiden zu bewirken. (δι᾽ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν.) Die Frage stellt sich: Dient Barbara Dobricks SWR Gespräch mit Aharon Appelfeld durch Erbarmen und Furcht die Reinigung der berichteten Leiden zu bewirken? Ich vermute es kommt auf den Leser an. Bei mir war dies der Fall. Weniger wesentlich sind die Fragen um Sprache und Literatur. Ich frage mich, was passiert wenn ein Schriftsteller die Muttersprache verleugnet und sich in einer nicht nur eigens sondern auch für seine Leserschaft jüngst erkünstelten Sprache mit ihr verhandelt. Ich gebe zu, und schäme mich, dass ich zugleich in dem alt-testamentlichen wie in dem modernen Hebräischen unbewandert bin. Wenn einst der ägyptische Pharaoh die Dienste von siebzig Rabbinern benötigte um den hebräischen Urtext in die Koine zu übersetzen, so vermag ich die Vermutung nicht zu unterdrücken dass die Siebzig ihm kein eindeutiges Hebräisch übersetzten, - denn dazu hätte er nur einen einzigen Martin Luther bedurft, sondern dass diese Siebzig eine alte Sprache neu entdeckten, zu neuem Leben erweckten - oder sie ergänzend neu erfanden. Ich wüsste gern mehr über das Hebräische womit Appelfeld sein Erleben zum Ausdruck bringt, über den Inhalt der Bücher die ergeschrieben hat, die seine zur einer der "wichtigsten Stimmen der israelischen Literatur" gemacht haben; möchte gern wissen worin denn eigentlich die "israelische Literatur" besteht. Sehe aber voraus dass ich demnächst mit vielen unbeantworten Fragen sterben werde. Freundschaftliche Grüße Ihnen beiden, und nochmals Wünsche zum glücklichen und gesunden Neuen Jahr! Jochen Meyer