Liebe Gertraud, Beim verspäteten Überlesen meines vorgestrigen Briefes, fällt mir auf neben dem verduselten Datum, ich schrieb an 28., nicht am 26., des Monats, auch das verballhornte Rechtschreiben (oder Falschschreiben, Orthographie oder Plagiagraphie) des Wortes "aufsässig" als "aufsätzig" womit ich meine Haltung der Lehrerin gegenüber bezeichnete. Ein Hinweis auf die Tatsache dass, in den Monaten nach meinem Ausscheiden im Spätherbst 1938 aus Herrn Hirsekorns Sechster Klasse, die Erweiterung und Bestätigung meiner deutschen Sprachkenntnisse nicht so sehr mittels des Lesens als infolge der endlosen Unterhaltungen und Auseinandersetzungen im vereinsamten Familienkreise in Konnarock geschahen. Die Fähigkeit deutsch zu schreiben verblasste mit beängstigender Geschwindigkeit. Ab und zu besinne ich mich auf Worte deren Rechtschreibung mich besonders verblüfften. Heute morgen ist's "übrigens", von dem ich erinnere, das es mir entsprechend der nach Virginia verpflanzten braunschweiger Mundart als "überrings" aus der Feder fließen wollte. In diesem Sinne ist meine heutige "Aufsätzigkeit" ein Echo aus meinem Konnarocker Deutschland. Der Neugier halber, forschte ich bei den amtlichen Erben von Jakob und Wilhelm Grimm und fand folgendes: aufsätzig, insidiosus, hostilis, aufsäszig: der teufel ist ufsetzig dem menschen. Keisersb. hell. lewe 21; du wirst ufsetzig sein irer fersenen. 16; ihr werdet mich euch ganz aufsetzig machen. Opitz Arg. 2, 407; und ob mir wol die, die mich hassen, aufsätzig hin und her aufpassen, so stärket mich doch deine gnad. Weckherlin 117; witzlos war der fürwitz, aufsätzig der fürsatz. 702; bis endlich das ganze dorf aufsätzig war und ihm in einer nacht der stadel bis auf den grund abgebrannt wurde. Jucundissimus 5; aufsätzig wurde. Hahn 4, 25; suche anderswo frauen, die du ihren männern aufsätzig machen kannst. J. E. Schlegel 2, 408. s. aufsetzig. aufsätzigkeit, f. repugnantia, hostilitas, animus infensus: das ward aufsätzigkeit gescholten und den lictoren befohlen ihn zu züchtigen. Niebuhr 2, 239. s. aufsetzigkeit. =================== Aus all diesem ergibt sich die Frage: Bezeugt ein Mensch mit der verfehlten Annahme, wo kein Fehler vorliegt, einen Fehler begangen zu haben, somit seine Dummheit oder seine Klugheit? Krasse Analogien aus den Bereichen der Ethik: Wird ein Mörder der "versehentlich" seinem vorgesehenen Opfer das Leben rettet, durch sein Versehen ein "guter" Mensch? Oder um vieles naheliegender: Sollte ein Arzt der seinen Patienten dem er das Leben zu retten versuchte, versehentlich umbringt, für sein Versehen bestraft werden? Darüber streiten die "Rechts"anwälte. Liebe Gertraud, hoffentlich ärgere ich Dich nicht mit meinen Spitzfindigkeiten. Das fortgeschrittene Alter, so schein es mir, verwandelt die Existenz in unvorhersehbaren Weisen. In meinem Leben nimmt das Denken - sagen wir das Geschwafel - je mehr die Hüften sich weigern, zunehmend die Oberhand. Ein Missstand wogegen ich keine Abhilfe weiß, als um Entschuldigung zu bitten. Herzliche Januargrüße an Euch beide. Jochen