Liebe Gertraud, Offensichtlich wird der Treppenwitz durch den Fortschritt des Alters ehr verschlimmert als behoben; denn als ich zuletzt schrieb, hatte ich das (mir) Allerwichtigste das ich Dir mitteilen wollte vergessen. Vermag mir auch vorzustellen, dass Dich meine Mitteilung des mir Allerwichtigsten verärgert, weil es letzten Endes doch nur ein Vorwand ist mich selber als Allerwichtigstes mitzuteilen. Es handelt sich wie (fast) immer um die Sprache, deren unaufhaltsame Veränderlichkeit die große Lehre (oder sollte ich schreiben: Leere) ist die ich dem Grimmschen Wörterbuch entnehme. Die Einsicht dass die Sprache dem Denken, dem "Geist" keinen Halt bietet, dass sie den Denkenden zu einem selbstgenüsamen Glauben an eine phantasmagorische "Wirklichkeit" verleitet, diese Einsicht ist Angel, Scharnier für eine weitere "kopernikanische" Wendung des Denkens, ein Schlüssel zum Verständnis der berühmten Denker, deren ein jeder, ausgenommen vielleicht Heraklit, die Unveränderlichkeit der Sprache, die Beständigkeit der Bedeutung des Wortes als Grundlage seiner Lehre, bezw seines Evangeliums voraussetzte. Platon beansprucht im Begriff, also im Sinn gegebener Worte, eine Hierarchie göttlicher ewiger Vollkommenheiten mit den Gipfeln des unbedingt Guten und Schönen zu bestimmen. Aristoteles war von der platonische Lehre in so außerordentlichem Maße überzeugt, dass er, trotz vorgeblicher Ablehnung, den platonischen Glauben an die bedingungslose Bedeutung der Worte verwirklichte, in dem er sich zu dogmatischen Kategorien und umfangreichen Katalogen verstieg, von denen sich die Leser bis auf den heutigen Tag betäuben lassen. Kant und Hegel, wie ich sie lese, bieten mit ihrem unkritischen Verlass auf die Eindeutigkeit der Worte die sie mit evangelistischem Eifer verkünden die Erfüllung und Vollendung des idealistischen Träumens. Das Grimmsche Wörterbuch verehre ich als den authentischen Quellentext für alles kritische Denken. Es bietet den Beweis, dass die Sprache sich unablässig wandelt, verwandelt, und dass an Worte gefesselte Theorien auf Treibsand errichtete Wolkenkratzer sind. Auf die Fragen ob oder wie, in Anbetracht der Hinfälligeit der Sprache, Mitteilung möglich sein möchte, weiß ich vorerst keine Antwort. Aber dass ich größenwahnsinnig bin, ist ein Vorwurf der mich durch's Leben begleitet hat und an den ich mich gewöhnt habe. Weitere Januargrüße an Euch beide. Jochen