geschrieben am 31. Januar 2018 abgesandt am 6. Februar 2018 Liebe Gertraud, lieber Bernd, Bitte vergebt mir auch diese unmittelbare Fortsetzung meines Briefes. Was mich heute Morgen nach nur sechs Stunden Schlaf aus dem Bett verscheuchte war Goethes Weisheit: Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert, Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide Von einem bösen Geist im Kreis herum geführt, Und rings umher liegt schöne grüne Weide. Frage mich ob er es vielleicht drauf angelegt hatte seinen Freund Schiller, der doch so leidenschaftlich gern spekulierte, zu sticheln, oder ob dieser Text der Freundschaft mit Schiller vorausging. Jedenfalls geht es mir mit dem Denken wie mit dem Reden, es will nicht unterbrochen sein, und die Schwafelsucht scheint mit dem Alter, statt sich zu begeben, heftiger zu werden. Die Vergänglichkeit des Wortes, von den Wörterbuchforschern so unverkennbar belegt, wird dennoch vom Worte selbst unwiderlegbar bestritten. Das Wort will sein, das Wort will verbleiben, wenn nur der welcher es heute ausspricht derselbe zu sein wähnt der er gestern war. In diesem Sinne hat der Evangelist dem Pilatus die Worte zugeschrieben: Ὃ γέγραφα γέγραφα. Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. So erklärte auch Luther: Das Wort sie sollen lassen stahn Und kein’ Dank dazu haben. Er ist bei uns wohl auf dem Plan Mit seinem Geist und Gaben. Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, Laß fahren dahin. Sie haben’s kein Gewinn. Das Reich muß uns doch bleiben. Was hier zu betonen gilt, ist der Widerspruch zwischen der unleugbaren Vergänglichkeit des Wortes und des Wortes immanenten Anspruch auf Ewigkeit. Die Ewigkeit des Wortes ist die einzige Ewigkeit der auch nur ein Einziger von uns jemals begegnet. Dieser Widerspruch zwischen der Vergänglichkeit und der Ewigkeit des Wortes hat nicht nur theoretische Bedeutung. Es ist ein Widerspruch mit wesentlichen praktischen Wirkungen. Auf der kleineren Bühne, erscheint er als Dudentravestie, das zwangsmäßige Bestehen auf sprachliche Einförmigkeit welche dazu dient das Wort mit den Schimmern der Bestimmtheit und der Ewigkeit zu vergolden. Auf der großen Bühne der Weltgeschichte wütet die Sehnsucht nach Ewigkeit des Wortes als Patriotismus, als Vaterlandsliebe, Ausdruck des Bedürfnisses, der Notwendigkeit die Eindeutigkeit der Sprache zu bewahren. Dies Bedürfnis ist Ausdruck der geistig-seelischen Abhängigkeit die uns einzelne, einsame Menschen an einander, an unser Zusammensein, an unsere Gesellschaft bindet. In diesem inneren Zwang zum Herdenmenschsein, ein Zwang der sich auch in dem Rechtschreibungsfimmel des Dudens offenbart, meine ich jedenfalls eine Ursache unserer verzweifelten und entsetzlichen Vergehen gegeneinander zu erkennen. Ein jeder von uns legt großen Wert auf die Verlässlichkeit (und Ewigkeit) der eigenen Sprache und "Kultur". Die Bedrohung von allem "Fremden" das die unabänderliche Sprache und "Kultur" beeinträchtigen möchte, sehe ich die Wurzel des Fremdenhasses, der Verfolgungen und Verbannungen, der Gefängnisse und Konzentrationslager. Hab' versucht in Dantes Divina Commedia eine Antwort zu finden. Was hat Dante mit seinem Versuch die Hölle zu beschreiben angerichet? War Dantes Beschreibung ein Verstehen? eine Rechtfertigung? eine verkappte Theodizee? Hat Dante doch tatsächlich geschrieben, der Herrgott hätte die Hölle aus Liebe!!! angelegt. Auch die Konzentrationslager?? Giustizia mosse il mio alto fattore; fecemi la divina podestate, la somma sapïenza e 'l primo amore. Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer, Geschaffen haben mich (die Hölle) die Allmacht Gottes, Die höchste Weisheit und die erste Liebe Ich fühle mich von der Brutalität des Inferno überwältigt. In den seither vergangenen 700 Jahren, nicht ein einziger Bericht von einem Leser der sich beim Lesen dieses großen Gedichts erbrochen hat. Ich habe viel zu lernen, und erzähle Euch was ich an Neuem entdecke, wenn's dazu kommt. Zwischen Bericht über Nathaniel: Er scheint zufrieden zu sein. Die Temperatur im Haus ist gewöhnlich 10 Grad Celsius, nie weniger als 5 Grad, und selten höher als 15 Grad. Nathaniel wärmt sein sonst kaltes Zimmer mit elektischen Heizern. Viele herzliche Grüße an Euch beide! Jochen