Lieber Herr Nielsen, Drei Monate fast sind vergangen seit meinem letzten Brief an Sie, indessen sich mein Leben gewandelt hat - wie könnte es anders sein - und ich mich mit ihm. Das Wort "Wandlung" ruft das geliebte Sonett von Rilke in die Tastatur: Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt; jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt. Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte; wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's? Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte. Wehe -: abwesender Hammer holt aus! Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung; und sie fuhrt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne, das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt. Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung, den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne will, seit sie lorbeern fühlt, daß du dich wandelst in Wind. Aus: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil Die Wandlung in Wind welche laut Rilke von der verwandelten Daphne gefordert wird, wäre in meinem Falle überflüssig, der ich so lange ich mich zu besinnen vermag, ein Windbeutel gewesen bin; was aber diese meine jüngste Wandlung verursacht hat, - ob lediglich das Altern, ob die Trostlosigkeit des Winters, ob der Einzug in mein Haus am 2. Januar dieses Jahres meines Enkels Nathaniels, ob es der Familienzuwachs am 17. März, entgegen meinem ausdrücklichen Wunsch, eines jungen Haushundes war, auf dessen Kameradschaft Nathaniel meint nicht verzichten zu können, - ich wage es nicht zu entscheiden, besonders nicht in Anbetracht meiner Überzeugung dass die Vorstellungen die sich unsereiner von sich und seiner Welt zusammenbastelt, kaum verlässlich, sondern im Gegenteil selbstdienlich sind, "self-serving" wie die Rechtsanwälte sagen, und zu nichts taugen als sich zu rechtfertigen und über die eigene Fehlerhaftigkeit hinweg zu täuschen. So gut ich kann, fahre ich fort mein Denken und Dichten schriftlich zu entwickeln, aber zunehmend gelähmt von der Einsicht welche ich vor etwa dreißig Jahren dem Protagonisten meines Romans, Jakob Döhring, in den Sinn legte: "Jetzt, in seinem einundsechzigsten Jahre, hatte das Leben ihn zu einem Ziel gebracht; doch war es ein anderes als jenes, welches er sich einst in seiner Jugend gesetzt. Damals hatte ihm die Welt des Geistes als seine eigentliche Heimat vorgeschwebt. In der Musik, der Mathematik, der Philosophie, und vor allem in der Literatur, als Niederschrift dessen, was ein Mensch zu fühlen und zu denken fähig war, hatte er die Erlösung von den Bedrängissen der Gegenwart gesucht. Sein ganzes Leben, seine besten Kräfte, die Schärfe seiner Intelligenz und die Wucht seines Willens, hatte er daran gesetzt sich in der Welt des Geistes ein Zuhause zu schaffen. Nun erkannte er, dass er trotz, oder schlimmer noch, wegen all seiner Anstrengungen sein ursprüngliches Ziel verfehlt hatte. Er kam sich vor, wie ein Wanderer in einer Wüste am Ende seiner Lebenskräfte, dessen letzte Leistung in der Erkenntnis besteht, dass es doch nur eine Fata Morgana war, der er entgegengestrebt hatte. Für Döhring bestand diese abschließende Einsicht in der Überzeugung, dass die literarischen Werke mit deren Studium er sein Leben verbracht, doch keineswegs den unbedingten Wert, den er vorausgesetzt hatte, besaßen. Vermeintlich waren sie ihrer Vortrefflichkeiten wegen überliefert worden. Blickte man aber näher hin, so war nicht zu verkennen, dass ihre Wahl durch den reinen Zufall, oder was dasselbe ist, durch menschliche Willkür, bestimmt worden war. Er konnte sich jetzt den Wert den er ihnen zugeschrieben hatte nur als die Veräußerung seines eigenen Selbstbewusstseins und die Behauptung seines eigenen Willens erklären." Lieber Herr Nielsen! Meine Unverschämtheit einen Brief mit Zitat des von mir vor etwa dreißig Jahren Geschriebenen zu bestücken hat keine Grenzen. Aber die Schrift will sich behaupten: insofern als jener Zweifel an der bedingungslosen Gültigkeit des geistigen Erbguts sich nunmehr auf die Gesamtheit der "gedeuteten Welt" erstreckt, mit der Einsicht dass wir Physiker und Metaphysiker uns mit der vermeintlichen Vernunft des von uns Verstandenen betrogen haben, und fortfahren uns zu betrügen. Ich erinnere Lessings Albtraum von den drei Besitzern eines angeblich einzigen echten Ringes als "betrogene Betrüger." "Saladin. Und nun, der Richter? – Mich verlangt zu hören, Was du den Richter sagen lässest. Sprich! Nathan. Der Richter sprach: Wenn ihr mir nun den Vater Nicht bald zur Stelle schafft, so weis ich euch Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel Zu lösen da bin? Oder harret ihr, Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne? – Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden Doch das nicht können! – Nun; wen lieben zwei Von Euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück? und nicht Nach außen? Jeder liebt sich selber nur Am meisten? – Oh, so seid ihr alle drei Betrogene Betrüger! Eure Ringe Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring Vermutlich ging verloren. Den Verlust Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater Die drei für einen machen. Saladin. Herrlich! herrlich!" Ich habe mich oft gefragt, ob Lessing sich der äußersten tragischen Ironie bewusst gewesen sein möchte, die darin liegt dass Nathans Fabel die drei Brüder deren jeder einen echten Ring zu besitzen meinte, als betrogene Betrüger stempelt. Anglo-amerikanischem Recht gemäß, ist unwissentlicher Betrug unmöglich, denn um Betrüger zu sein muss ein Betrüger wissen dass er betrügt. Der eigentliche Betrüger in Lessings überklugen Fabel wäre somit der (himmlische) Vater der seine drei vertrauensselige Söhne vorsätzlich getäuscht hat. Welch eine Stornierung des optimistischen Voraussetzung von Leibniz, der Vater habe alles in der Welt zum Besten angelegt und vorbereitet! Mit diesen liederlichen Ausführungen über ein Heiligtum unserer Überlieferung bestätigt sich auch mein Urteil über meine Windbeutelei. Ich sende Ihnen beiden meine zugegeben zaghaften Ostergrüße. Jochen Meyer