Liebe Gertraud, Für Deinen Brief vom 1. März den ich soeben ein weiteres Mal gelesen, hab verspäteten Dank. Deine Bemerkungen über die sich unerbittlich wandelnde Sprache gehen mir nahe, und wenn ich schreibe, dass ich die Sprache als meinen wertvollsten Besitz schätze, will ich mich keineswegs rühmen der Sprache gerecht zu werden. Den von Dir beanstandeten Ausdruck "geil" hab ich im Grimmschen Wörterbuch nachgelesen. Wieder einmal erscheint mir das Wort als Schleier vor unbegreiflichen einstigen und gegenwärtigen Schicksal. Und wenn Du wegen "überkandidelte Wortkombinationen" klagst, muss ich mich fragen ob ich mich als schuldig erkennen sollte, denn ich bin entzückt von der zurvorkommenden Leichtigkeit mit welche die deutschen Worte sich verketten lassen, und vielleicht lasse ich mich von ihr zu übermütigen ungebührlichen Zusammensetzungen verleiten. I've also started to experiment with analogous verbal amalgamations in English, although I'm at a loss for an example; none comes immediately to mind. Im übrigen ist es mir unmöglich, ohne die Schranken der Höflichkeit des Herzens einzurennen, dem was ich in den jüngst vergangenen Tagen gefühlt und gedacht habe sprachlich gerecht zu werden. Ich meine entdeckt zu haben, dass es auch im innersten Erleben, und besonders hier, etwas dem gesellschaftlichen Anstand (political correctness) Vergleichbares gibt das nicht ausgesprochen werden kann ohne Schmerzen und Ungerechtigkeit zu stiften. Vielleicht, wenn es mir aufgelegt ist lange genug zu leben, wird es in der Verzweiflung eines Romans oder in dem trostlosem Trübsinn von Gedichten, seinen Niederschlag bekommen. Inzwischen aber ist es erst April; der Mai kommt, und dann der Sommer, ohne mein Zutun. Herzliche Grüße an Euch beide. Jochen