From: Niels Holger Nielsen Subject: Döhring Date: Sun, 22 Apr 2018 04:29:30 +0200 To: ernstmeyer@earthlink.net Lieber Herr Dr. Meyer, wie ein lange abwesender Patient plötzlich und überraschend wieder im Wartezimmer sitzt und einfach unterstellt, er könne erwarten, mit größter ärztlicher Kunst behandelt zu werden, so tauche ich jetzt als unzuverlässiger Korrespondent auf, der die Chuzpe hat, annehmen zu können, nach so langer Zeit wieder Gehör bei Ihnen zu finden. Nicht einmal Ostern und Auferstehung haben mich aus meiner Lethargie gerissen. So habe ich zuallererst Ihnen für einige freundliche Briefe sehr herzlich zu danken, über die ich mich, wie immer, gefreut habe und die ich dennoch unbeantwortet ließ. Bedenkenswert war noch jede Zeile von Ihnen. Das hellsichtige Zitat aus Ihrem Roman, das noch nach Jahrzehnten nichts von der Kraft seiner Erkenntnis verloren hat, hat mich besonders beeindruckt. Der Protagonist, in einer intellektuellen Krise befindlich, sieht sich in seinen höchsten Bestrebungen betrogen. Die gedeutete Welt ist fragwürdig geworden. Die radikale Skepsis Döhrings muss vom Leser aber doch wohl als notwendige Voraussetzung gesehen werden, ein über allen Zweifel erhabenes Fundament für seine geistige Arbeit zu gewinnen. ` Ein Ausstieg aus allen hermeneutischen Bezügen ist ja gar nicht möglich. Aber die Aktualität dieses Zitats liegt gewiss darin, dass Döhrings Absage an die geistige Welt prophetisch die Verfasstheit der gegenwärtigen Welt im Hinblick auf geistige Verunsicherungen antizipiert. Das kann jedoch nicht als endgültiger Befund dienen. Skepsis ist ein unerlässliches Mittel der Aufklärung, aber sie muss sich auch gegen sich selbst wenden, wenn die Gefahr der Aufgabe des Geistes besteht. In Zeiten von Lügen und unbegrenzter Manipulation ist die Bemühung um schrittweise Annäherung an die Wahrheit ein Gebot verantwortlichen Handelns. Gerade dann, wenn alle Maßstäbe außer Kraft gesetzt werden, ist der Zerstörung der Vernunft zu widersprechen. In Lessings Text “Über die Wahrheit” ist es die Aufgabe des Menschen, unter immer neuen Täuschungen nach der Wahrheit zu suchen, der Besitz der Wahrheit aber liege nur bei Gott. Der Theodizee eines Leibniz hat schon Voltaire in “Candide” eine Absage erteilt. Solche Welterklärungsversuche sind nicht mehr denkbar. Auch wenn die Widersprüche der heutigen menschlichen Gesellschaften kaum erträglich sind, wäre Defätismus eine Haltung mit furchtbaren Konsequenzen. Autokratische und faschistoide Tendenzen in vielen Gegenden der Welt stellen Herausforderungen dar, die nicht mit Quietismus übergangen werden dürfen. Hatte man geglaubt, dass z.B. In Deutschland die Hypothek des menschen- verachtenden, unsäglichen Holocaust für alle Zeiten als Mahnung und Sühne das Bewusstsein bestimmen würde, so muss man jetzt erkennen, dass dumpfe Geschichtsvergessenheit und ideologische Verblendung schon wieder Verhaltens- muster produzieren, die alarmierend sind. Es sind Randgruppen, keine Mehrheiten, aber den Anfängen muss widersprochen werden. Der Endlichkeit meines Bewusstseins bin ich mir bewusst, und dennoch frage ich mich, wie ich zu der anmaßenden Vorstellung komme, ein sicheres Gespür für Wahrheit und Verantwortung zu besitzen. Allerdings sind mir Döhringsche Niedergeschlagenheiten nicht fremd (sie könnten sogar ein Grund dafür sein, dass ich mich länger nicht hören ließ), aber dennoch habe ich eine Art Grundvertrauen, das mich auch in äußerst präkeren Situationen nicht im Stich läßt. Lieber Herr Meyer, wir hoffen sehr, dass es Ihnen gut geht. Sie schreiben, dass Nathaniel wieder bei Ihnen wohnt. Ich stelle mir vor, dass dieser begabte und aufgeschlossene junge Mann auch von seinem großzügigen und genialen Großvater noch viel lernen kann. Und was den Hund als zusätzlichen Hausgenossen anbelangt, da kann man sicher ablehnend sein, aber ein solches Tier kann einen auch sehr für sich einnehmen. Der Pudel, den Faust vom Osterspaziergang mitbrachte, ist natürlich eine Kategorie für sich. Herzliche Grüße, auch von meiner Frau, Niels Holger Nielsen Von meinem iPad gesendet