Subject: am 24. April 2018 To: Niels Holger Nielsen From: Ernst Meyer Date: Wed, 25 Apr 2018 23:30:10 -0400 Lieber Herr Nielsen, Ihr Brief hat mir viel Freude gemacht! Herzlichen Dank! Beim Lesen beschlich mich der Gedanke: Vielleicht verstehen Sie mich besser als ich mich selbst verstehe. Jetzt in der Abenddämmerung des Lebens repetiere ich im Stillen, und zuweilen auch in Briefen wie diesem was ich im Verlauf der Jahre meine über mich und über die Welt in der ich gelebt, entdeckt zu haben. Soeben kommt Ihr so liebenswürdiger und liebevoller Telephonanruf, leuchtet wie ein Sonnenstrahl in diesen regnerischen Abend und lässt Ihre Sorge um mich wie einen Regenbogen glänzen. Ich möchte Ihnen gebührend danken, und weiß nicht wie. Die jüngst vergangenen Wochen hab ich mit dem Versuch verbracht die zweihundert Anfangsseiten des sechsten Bandes meiner Roman Serie "Vier Freunde" zu redigieren. Hab mit Betroffenheit den Schwund meines Gedächtnisses wahrgenommen insofern es mir nicht gelingen will die scheinbaren Wiederholungen auszumerzen, wo ich dunkel zu erinnern meine dass ich diese oder jene Betrachtung schon vormals niederschrieb, ohne mich auf Einzelheiten besinnen zu können. Bin mir aber zugleich bewusst dass Wiederholung nicht unbedingt zu verpönen ist. In der Musik spielt Wiederholung bekanntlich eine wesentliche Rolle, wie etwa im Da Capo der Arie, im Reprise bei Tänzen, im Thema mit Variationen, und am großartigsten, finde ich, im Gerüst der Fuge. Außerdem, sage ich mir, dass meine Wiederholungen in Abwesenheit jeglicher Leser kaum anstößig sind, andernfalls vielleicht sogar wünschenswert für mögliche Leser in meinem Alter, die gleichfalls an Gedächtnisschwund leiden. In dem besagten Text untersuche ich die Rechtsfragen welche sich aus den jahrelang währenden Prozessen ergeben, die ich mit zugegebener Genugtuung mit den Nantucket Inselbehörden und mit dem staatlichen Klempnereiamt geführt habe. Meine Überlegungen überzeugen mich dass was in gegebenem Falle "wahr" oder "unwahr" sein möchte sich rechnerisch nur in mathematischen Übungen feststellen lässt. Abwesend der geistigen Dressur der Mathematik, sind "Wahrheit" und "Unwahrheit" existentielle Gegebenheiten welche sich nur einzeln aus jedem tatsächlichen Erleben mit all seinen besonderen Umständen erschließen lassen. Urteile, wie etwa "Dieses ist wahr." "Jenes ist unwahr." finde ich, sind lächerlich und leer; und heute Abend scheint es mir, dass die Erläuterung dieses schwierigen Problems weit über meine schriftstellerischen Fähigkeiten geht. Die Grundfrage, denke ich, ist inwiefern oder ob überhaupt, die Wahrheit eine Bestimmung der Sprache zu sein vermag. Ob es Sinn hat von mir als Zeuge den Schwur zu verlangen: "Ich versichere an Eides statt, dass ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe." Wie vermag ich zu schwören dass ich "nichts verschwiegen habe", wenn ich an Rilke glaube, der geschrieben hat: "Das was geschieht hat einen solchen Vorsprung vor unserm Meinen, dass wir's nie einhol'n und nie erfahren wie es wirklich aussah." Besagen nicht diese Worte, dass alles verschwiegen, und nichts sagbar ist? Mein Vater war ein Mann der seine Worte sehr ernst nahm. Ich besinne mich lebhaft wie er in der Kirche neben mir stand und ihm beim Apostolischen Glaubensbekenntnis: I believe in God, the Father almighty, creator of heaven and earth. I believe in Jesus Christ, God's only Son, our Lord, who was conceived by the Holy Spirit, born of the Virgin Mary, suffered under Pontius Pilate, was crucified, died, and was buried; he descended to the dead. On the third day he rose again; he ascended into heaven, he is seated at the right hand of the Father, and he will come to judge the living and the dead. I believe in the Holy Spirit, the holy catholic Church, the communion of saints, the forgiveness of sins, the resurrection of the body, and the life everlasting. Amen. die Stimme versagte. Was möchte es heißen an Worte zu glauben? Auf Seiten 12 und 13 meines Romans Döhring äußert der stotternde Doktorand Jonathan Mengs die Vermutung dass, da die Wirklichkeit weit jenseits der Worte liegt, der "wahre" Glaube an das Wirkliche, unvermeidlich den Zweifel an dem die Wirklichkeit verdeckenden Wort nach sich zieht, und dass demgemäß der Zweifel der wahre Glaube ist. Der Zweifel den ich beführworte ist Zweifel nicht an der Wirklichkeit. Ich bezweifle das Wort welches die Wirklichkeit zu bezeichnen und zu ersetzen wähnt, tatsächlich aber die Wirklichkeit verhüllt. Meine Skepsis an der Verlässlichkeit und Gültigkeit des Wortes stempelt mich als einen abtrünnigen Lutheraner. Ich wiederhole mich wenn ich behaupte, die Sprache ist nicht die Wirklichkeit. Bestenfalls ist sie ein Weiser an der Straße zur Wirklichkeit. Die Straße zur Wirklichkeit nenne ich das "Erleben", und weiß nicht ob es lediglich meine Befangenheit ist die mir zuflüstert dass es für Erleben keine getreue Übersetzung ins Englische gibt. Im Grimmschen Wörterbuch lese ich: "seinem begriffe nach ist in "er" die vorstellung von aus und aufaus, ein vorgehen von innen her gelegen, daher sich auch auf und er verstärkend knüpfen." Herkömmlich werden beide, Erleben und Erfahrung ins Englische als "experience" übersetzt. Ich mag übertreiben, wenn ich einen Unterschied feststelle, insofern als "Erleben" mich als unverbrüchlich subjektiv und inwendig anmutet, indessen "Erfahrung" ein Verhältnis zur Außenwelt besagt, daran viele Gesellschaftsmitglieder teilnehmen können. Soweit bin ich heute Abend gekommen. Fahre jetzt zum Flughafen um meinen Sohn in Empfang nehmen der um 00:45 von einer Berufsreise aus Florida zurückkehrt. Ihnen beiden aber sende ich vorerst meine dankbaren Grüße. Jochen Meyer