From: Cristina Basili To: Ernst Meyer Subject: AW: am 4. Januar 2017 (2) Date: Thu, 3 May 2018 18:27:12 +0000 Lieber Jochen, Die vier Monate sind fast um, also ist es wieder Zeit, dir zu schreiben. Offenbar liegt mir unser Briefwechsel doch zu tief in der Seele. Dies ist der Brief, den ich am 8.Januar als Antwort auf deinen letzten verfasste, aber nicht abschickte, da er noch nicht vollständig war: ----- Ich habe mit meiner Idee "...männliche Liebe ist fast immer sexuell bedingt. Aber weibliche fast immer mütterlich" nicht sehr tief philosophisch gedacht. Ich habe den natürlichen tierischen Instinkt gemeint, der in den Menschen genauso verankert sein soll. Unlängst habe ich einen Artikel gelesen über ungezähmte Tiere, in dem stand, dass Löwen die Löwin immer vergewaltigen. Doch die Liebe der Löwin zum Löwenbaby ist sehr stark. Und ich habe mich gewundert, ob es nicht ähnlich bei den Menschen ist, nur dass wir eben “zivilisiert” sind, manche mehr, manche weniger. Denn mit dieser Theorie könnte ich die Welt und die Gesellschaft besser verstehen. Es würde dann auch Sinn machen, wieso ich und meine beste Freundin in Los Angeles, die den schönen georgischen aber ursprünglich griechischen Namen Elene trägt, so viele männliche Verehrer haben und uns aber auf erotisch/romantische Ebene nicht wirklich für irgendwen davon interessieren. Du verneinst dies und sagst es wäre unsere kulturlose Gesellschaft, die fast ausnahmslos die fleischliche Befriedigung zwischen Menschen kennt und nicht die platonische Liebe versteht. Doch ich rede nicht vom Unterschied zwischen fleischlicher Liebe und geistiger philosophischer Liebe. Ich redete vom Unterschied zwischen Männern und Frauen. Und sieh, du drückst selbst den Unterschied am Ende deines Briefes aus. Denn du schreibst “Was nun Deine Beziehung zu mir anbelangt, weiß ich dass Du mich um sechzig oder siebzig Jahre, oder mehr überleben wirst. Ich weiß auch das was von mir in Deinem Gedächtnis überlebt, dann, mit meinem Tode, zeitlos wird, und ich befürchte dass die Erinnerung an mich Dich dann vielleicht von einer Ehe mit einem anderen abhalten möchte, weil Du keinen wie mich, - den mein Vater als einen eingebildeten Frosch bezeichnete - je finden wirst.” Das deutet darauf hin, dass das für dich einzige Hindernis für eine romantische Beziehung zwischen uns, beziehungsweise für eine Ehe, der große Altersunterschied zu sein scheint. Aber sieh von meiner Sicht, bist du mir ein Lehrer und Doktor, keines Falls eine Art Geliebter. Und wenn ich mich in jemanden verliebe, den ich heiraten möchte, bin ich mir fast sicher, dass du nicht Teil dieser Liebe sein wirst. Du wirst in meinem Gedächtnis als einer der einflussreichsten meiner Lehrer bleiben und demnach werde ich mich in jemanden verlieben, der etwas von platonischer Liebe (und vielem anderen) versteht. Aber er wird nicht dich ersetzen, wie dein Vater Hans Georg ersetzte. Und ich meine auch, dass wenn du weiblich wärst, würdest du auf so einen Gedanken nicht kommen. Aber ich würde dich genauso als meine Lehrerin und Doktor verehren. Sieh, daraus schließe ich, es gibt einen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Und dieser ist offenbar und oft unbewusst sexuell bedingt. ----- Nun, lieber Jochen, der Grund wieso dieser Brief nie vervollständigt wurde, war, weil, wie du sagtest ich einen Ersatz gefunden habe oder gedacht habe gefunden zu haben. Am 12. Januar, traf ich mich, nach einmonatigem schriftlichem Gedankenwechsel, mit dem koreanischen Pianisten namens Gunyoung zum Abendessen. Ganz zufällig ist er wahrscheinlich der einzige koreanische Philosoph, der so gut Klavier spielen kann. Und auch durch Zufall, hat er sich, er sagt auf den ersten Blick, als wir uns zufällig durch einen gemeinsamen Freund im November kennenlernten, in mich verliebt. Der Zufall möchte auch, dass wir uns beide in Los Angeles (er studiert an der Colburn School) nicht wirklich sehr wohl fühlen und beide lieber nach Europa zurückziehen wollen. Zufälligerweise spricht Gunyoung auch ein bisschen deutsch, weil er acht Jahre lang in Berlin und Köln gelebt hat und ganz durch Zufall kennt er einen fast größeren Teil der deutschen Literatur als ich, was nicht sehr viel bedeutet, denn ich habe in meinem Leben bis jetzt viel zu wenig gelesen. Sein erstes Geschenk an mich, das er mir am 12. Januar reichte, am Tag seiner Ankunft aus Deutschland, wo er den letzten Dezember verbrachte, war Goethe´s West-östlicher Divan. Seltsamerweise befiehlt mir der Zufall auch, dass ich mich fast immer wohl fühle, wenn wir zusammen spielen, auch wenn er teilweise fast vom Blatt spielt, weil er manchmal Sachen nicht ernst genug nimmt und es danach bereut. An meiner Audition für das Kammermusikfestival in Yellow Barn, Vermont, spielten wir Teile aus der Mendelssohn Sonate für Cello und Klavier und aus dem Konzert von Schumann und siehe da, obwohl wir beide unserer Meinung nach äußerst unvorbereitet waren, wurde ich von hunderten Musikern aus aller Welt ausgewählt den ganzen Juli im schönen Putney in Vermont zusammen mit interessanten und ausgezeichneten Musikern meiner Generation zu verbringen. Höchstwahrscheinlich reise ich übrigens über Boston nach Vermont. Doch trotz all dieser Zufälle, lieber Jochen, komme ich nun zur Erkenntnis, dass ich wieder eine Wahl habe. Ich habe die Wahl getroffen, obwohl ich die Aufnahmeprüfung für den DMA an der USC im Februar bestanden habe, Ende Mai zurück nach Europa zu ziehen. Und ich habe auch die Wahl vor mir zu treffen, ob ich Gunyoung, nachdem er sein Artist Diploma abschließt nächstes Jahr, nach Deutschland verführe oder einfach mein Leben weiterführe und Herrn oder Frau Zufall entscheiden lasse, was mit Gunyoung passiert. Es scheint als läge meine Zukunft in meinen Entscheidungen. Den freien Willen gibt es, lieber Jochen, nur ist er nicht frei. Oder vielleicht habe ich den Begriff der Freiheit bis jetzt immer viel zu positiv bewertet. Vielleicht ist Freiheit nichts Gutes für mich. Ich frage mich, ob Zufall einen echten Namen hat. Denn das Wort Zufall scheint mir nur eine Etikette eines wahren Wortes zu sein, dass der Mensch nicht auszusprechen vermag. Ist das wahre Wort dahinter Gott? Doch mit Gott habe ich dasselbe Problem, es scheint auch nur eine Etikette zu sein. Ach, lieber Jochen, wir lesen und schreiben und lernen und studieren und leben und lieben und stoßen letzten Endes wieder an die selben Fragen und Probleme. Da gibt es vielleicht doch gar keinen Unterschied zwischen Esel und Mensch. Wie immer herzlichst, oder soll ich schreiben seelichst?, Deine Cristina Von: Ernst Meyer Gesendet: Freitag, 05. Jänner 2018 00:15:41 An: Cristina Basili Betreff: am 4. Januar 2017 (2) Liebe Cristiba Draußen vorm Fenster wirbelt der amtlich prophezeite Schneesturm, und drinnen, hinterm Fenster sitze ich am Rechner und komponiere den gestern prophezeiten Brief. Auch der geahnte Traum ist pünktlich beim Erwachen erschienen. Ich berichte ihn Dir aus jener wissenschaftlichen Gefühlsentfernung welche betreffs der Körper im Anatomiesektionssaal waltet, eine Gefühlsentfernung welche betreffs der Seelen die schamlosen Beschreibungen der Psychoanalyse ermöglicht. In diesem um nur eine Woche verspäteten Weihnachtstraum stand ich an einem Wochenbett, und beglückwünschte einen Mann der soeben ein Kind geboren hatte. Junge oder Mädchen? fragte ich ihn. Er sagte, Sieh doch nach. Das tat ich. Es war ein Mädchen. Erst hinterher hörte ich als Begleitmusik die Stimme der Altistin im "Messiah" mit dem Weihnachtsrezitativ: Behold, a virgin shall conceive and bear a son, and shall call His name Emmanuel, God with us.(Isaiah 7:14; Matthew 1:23) Dass eine Jungfrau ein Kind empfangen sollte scheint mir nicht mehr vereinbar mit der Ordnung der Natur, als dass es ein Mann wäre der mit diesem Wunder begnadet würde. Aus Anlass dieser Traumoffenbarung betrachte ich mich als Kandidat für die höchsten Ehren der von mir bisher so schnöde missachteten Frauenfreiheitsbewegung; denn dass es endlich als Weihnachtsgeburt, statt für Gottes Sohn für Gottes Tochter höchste Zeit geworden ist, darin, laut unserer früheren Korrespondenz über den allgemeinen Göttinnenmangel, stimmen Du und ich überein. Dass aber in diesem Traum nicht die Frau, sondern der Mann das Kind gebiert, ist die äußerste Schlussfolgerung des Anspruchs auf die Gleichheit der Geschlechter. Mit deiner Vermutung, dass ich in meinem Leben viel Zeit auf das Denken verwandt habe hast Du recht. Jedoch ist das Ergebnis dieser Bemühungen ein Vorgang den ich Entidealisierung nenne, ein dialektisches Herabsetzen des sprachlich Bestimmten zugunsten des empfindungsmäßig Erlebten. Die von mir heute erlebte Wirklichkeit lässt sich nicht mittels wissenschaflichen, oder auch künstlerischen Beschreibungen erschöpfen. Entidealisierung ist mitteilbar, wenn überhaupt, nur als Spiegelwirkung der Musik, der Dichtung, und der bildenden Kunst. In der düsteren Verworrenheit meines senilen Gedächtnisses, meine ich ein Gespräch Platons zu erinnern, - ich glaube es war der Sophist und bin zu faul es nachzulesen - wo die Frage aufgeworfen - und wie ich erinnere, bejaht wird - ob das in Worten benannte über Wirklichkeit verfügt. Ich bin anderer Meinung. Mir scheinen die Sprachgefüge in denen unsere Geistes- und Naturwissenschaften sich ergehen als vorläufige, veränderliche Gerüste mittels derer ein jeder von uns die Welt seiner Vorstellungen errichtet. Solche Sprachgefüge zwar zum Mitteilen unerlässlich, sind dennoch (manchmal, oft, immer?) Hindernisse die meinem Verstehen den Weg verbauen. So etwa ist "die Gesellschaft" eine Schlussfolgerung aus den mannigfaltigen Beziehungen die uns Einzelne mit einander verbinden. Die Problematik der sogenannten Gesellschaft ist mir zugänglich nur indem ich die einzelnen Umstände dieser Beziehungen einzeln bedenke. Ich bin mir eindringlich bewusst, in welchem Ausmaß mein Leben von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde von meinen Mitmenschen geprägt und abhängig ist, zugleich aber auch bewusst wie schwankend, bestimmt und doch unbestimmt, wie notwendig mir meine Unabhängigkeit von der Gesellschaft ist. Diesen Widerspruch mache ich mir zugänglicher mit der Vorstellung einer dynamischen, sich stets wechselnden Beziehung meiner selbst und anderer Einzelner zu seinen, bezw. ihren Mitmenschen, eine Beziehung die nicht in meiner Macht steht, in die mich zu fügen ich verpflichtet bin, und deren Sinnbild ich in der Überschrift zu erkennen meine: Dies ist Jesus der Juden König. hic est Iesus rex Iudaeorum. καὶ ἐπέθηκαν ἐπάνω τῆς κεφαλῆς αὐτοῦ τὴν αἰτίαν αὐτοῦ γεγραμμένην ΟΥΤΟΣ ΕΣΤΙΝ ΙΗΣΟΥΣ Ο ΒΑΣΙΛΕΥΣ ΤΩΝ ΙΟΥΔΑΙΩΝ. (Matthäus 27:37) Demgemäß empfinde ich dass mit dem Verständnis, der Widerspruch von Einzelnem und Gesellschaft nun als unentrinnbare Gegebenheit erscheint, unentrinnbar wie Krankheit und Tod. Das dritte Thema welches Dein Brief anschneidet sind die so geheimnisvollen und zauberhaften Beziehungen zwischen uns Menschen die im Allgemeinen so gründlich verschwiegen werden, dass ein jeder von uns nur von eigens Erlebtem zu erzählen weiß. In Deinem Brief schreibst Du: "Und dabei interessiert mich der Unterschied zwischen Männern und Frauen sehr. Denn ich denke männliche Liebe ist fast immer sexuell bedingt. Aber weibliche fast immer mütterlich." Was Du schreibst mutet mich an als eine Vereinfachung die ich nicht nachzuziehen vermag, denn ich kann lediglich aus eigenem Erleben berichten, dass ich, abgesehen von der frühen Kindheit als ich mir vorstellte mich mit meiner Schwester zu verehelichen, weil sie das einzige weibliche Geschöpf war vor dem ich mich nicht ängstigte, in meinen 87 Jahren nur zwei Frauen begegnet bin mit denen ich mir eine Ehe überhaupt vorstellen konnte. In den Briefen an meine Frau, als wir um einander warben, war ich es, der die Trennung von Körper und Seelen behauptete, und die Unio mystica der Seelen als Vorbedingung für jegliche körperliche Verbindung forderte; indessen meine Geliebte mir beteuerte, dass ihrem Erleben gemäß, keine Trennung zwische Körper und Seele bestünde und dass Schenkung von Seele und Geist zugleich geschehen könnten und müssten. Ich verstehe dass in der zeitgenössichen kulturlosen Welt, allenfalls aus männlicher Perspektive, die Beziehung zum Weibe als eine lediglich fleischliche erscheint, und es amüsiert mich, dass meine Abneigung gegen die herrschende Bordellatmosphäre mir als latente Homosexualität angerechnet wird. Das Wort Geschlecht der deutschen Sprache ist bekanntlich vieldeutig. Das Wort Sexualität aus der englischen Sprache mutet mich an als sehr undeutlich. Behauptete ich Sexualität würde mit den Goetheworten bestimmt: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche, Hier wird's Ereignis; Das Unbeschreibliche, Hier ist's getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan. wäre manches das anderweitig als sexuell gälte ausgeschlossen, und man würde mir einen Termin mit dem Psychiater anbieten. Einträglicher als sich mit dem Begriff Sexualität verulken und ins Bockshorn jagen zu lassen, scheint es mir sich um Liebe zu bekümmern, ein Wort das vieles verspricht und vieles verhüllt. Vor einem Jahr (am 14.1.2017) schrieb ich Dir: "Es ist zu früh dass wir über αγαπη, φιλια und/oder ερος diskutierten." Vielleicht jetzt. Bemerkenswert dass ein so breite Spektrum des Erlebens im Deutschen und Englischen in einem einzigen Wort Liebe, bezw. Love, zusammengefasst wird. Die Verkommenheit - oder Abwesenheit unsrer Kultur wird deutlich mit der Betrachtung des platonischen Eros die er im letzten Abschnitt des Gastmahls beschreibt. Faulheit von mir dass ich Wikipedia zitiere: Platonische Liebe ist eine Form der Liebe, die seit der Renaissance nach dem antiken griechischen Philosophen Platon (428/427 v. Chr. – 348/347 v. Chr.) benannt wird, weil ihre philosophische Begründung auf seiner Theorie der Liebe fußt und weil ihre Befürworter sich auf ihn berufen. Im modernen Sprachgebrauch hat aber der Ausdruck „platonische Liebe“ eine Bedeutung und Konnotationen, die mit dem ursprünglichen Konzept Platons wenig oder nichts zu tun haben. Platon sieht in der Liebe (Eros) ein Streben des Liebenden, das diesen stets vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Vereinzelten zum Umfassenden führen soll. Das geschieht der platonischen Theorie zufolge, wenn der Liebende Philosoph ist oder wird und als solcher auf eine von Platon beschriebene Weise mit der Liebe umgeht. Der im Sinne Platons Liebende wählt bewusst einen philosophischen Weg, der ihn zu immer höheren Erkenntnissen führen soll. Er richtet den erotischen Drang im Lauf eines gestuften Erkenntnisprozesses auf immer umfassendere, allgemeinere, höherrangige und daher lohnendere Objekte. Dabei erweist sich schließlich die allgemeinste auf diesem Weg erreichbare Wirklichkeit, die Platon als das Schöne an sich bestimmt, als das würdigste Objekt. Dort endet die Suche des Liebenden, denn erst dort findet er nach dieser Lehre vollkommene Erfüllung seines Strebens. Im modernen Sprachgebrauch hingegen drückt die Bezeichnung einer Freundschaft als „platonisch“ gewöhnlich nur aus, dass die befreundeten Personen kein sexuelles Interesse aneinander haben. Der Ausdruck wird auch für eine potenziell erotische Beziehung verwendet, bei der man freiwillig auf die sexuelle Befriedigung verzichtet oder umständehalber auf sie verzichten muss. Dabei kommt es nur auf den Verzicht als solchen an, nicht auf eine philosophische Motivation, Begründung oder Zielsetzung, die oft gar nicht vorhanden ist. Der Grund kann beispielsweise auch darin bestehen, dass die Fähigkeit oder Gelegenheit zu sexueller Betätigung fehlt oder diese unmöglich ist, da die geliebte Person ihr nicht zustimmt." Als ich Kind war hatte ich, aus Schutzbedürfnis, großes Verlangen nach der Eltern Liebe. Während ich älter wurde erfuhr ich, dass diesem Verlangen niemals benügt werden würde, und dass ich den Schutz der Liebe nur empfangen würde, insoweit ich selber als Liebender der Ursprung der Liebe würde. Und nun, je älter ich werde, desto mehr empfinde ich die Notwendigkeit zu lieben, weil mir meine Liebe und nur meine Liebe die Wirklichkeit meiner Existenz verbürgt. Am Besten ist's, wenn der oder die Geliebte, von meiner Liebe gar nichts weiß, geschweige denn, dass ich Erwiderung erheischte. Besonders im hohen Alter, wenn der Tod näher und näher rückt. Vor hundert Jahren, als die Tuberkulose so oft den jungen Menschen dem Leben entriss, kam es nicht selten vor, dass sich eine junge Frau in einen jungen Mann verliebte, der starb eh die Liebe in einer Ehe vollendet wurde. Dies war das Schicksal meiner Mutter die sich in einen gleichaltrigen Schriftsteller, Hans Georg Schick verliebte. Hans Georg starb an Tuberkulose, und meine Mutter fand dann in meinem Vater einen Menschen der bestrebt war Hans Georg so ähnlich zu werden dass es ihm möglich würde Hans Georg im Leben meiner Mutter zu ersetzen. Anders das Schicksal der Mutterschwester meiner Frau, Virginia Randolph Grace, die sich in einen mir anderweitig unbekannten Fred Schaefer verliebte, der auch alsbald an Tuberkulose starb. Virginia aber blieb dem Gedächtnis an ihren Geliebten treu. Sie blieb unverheiratet und ließ ihre Liebe in ihre Arbeit fließen. Sie war Archäologin von Beruf, zog nach Athen, und wurde Spezialistin im Datieren von Amphora. Ihr Urteil über die Zeit von Ausgrabungen mit Amphora wurde ihren Kollegen unentbehrlich. Was nun Deine Beziehung zu mir anbelangt, weiß ich dass Du mich um sechzig oder siebzig Jahre, oder mehr überleben wirst. Ich weiß auch das was von mir in Deinem Gedächtnis überlebt, dann, mit meinem Tode, zeitlos wird, und ich befürchte dass die Erinnerung an mich Dich dann vielleicht von einer Ehe mit einem anderen abhalten möchte, weil Du keinen wie mich, - den mein Vater als einen eingebildeten Frosch bezeichnete - je finden wirst. Dann würde ich erst mit dem letzten Ton Deines Cellos verklingen. Wenn ich mich recht besinne war es Kierkegaard der in Entweder/Oder erklärte. Heiratest du, so wirst du es bereuen. Heiratest du aber nicht, du wirst es auch bereuen. Ob du heiratest, oder ob du nicht heiratest, du wirst es bereuen. Ich aber rate Dir, bereue niemals, in den Worten Vergils, perge modo, et qua te ducit viam, dirige gressum. (Geh nur voran und wo immer der Weg dich leitet, richte deine Schritte.) Worauf es in der Ehe ankommt, ist nicht die Befriedigung fleischlicher Bedürfnisse, - die ist auch anderweitig möglich. Worauf es ankommt sind die menschlichen Beziehungen die sich aus der Gründung der Kerngesellschaft, der Familie ergeben. Dass diese Beziehungen nicht einwandfrei sind und stets unvorhersehbare Problematik nachschleppen, ist Dir aus eigener Erfahrung bekannt. Auch erwähne ich, obgleich ich weiß dass Du mir nicht glaubst, dass keiner von uns einen freien Willen hat, dass keiner von uns die Macht hat in sein Schicksal einzugreifen, und dass du überleben wirst, was auch immer geschieht, weil das einzig Lebensnotwendige, die Liebe zu anderen Menschen, zur Kunst, und zu Gott, Dir nicht genommen werden kann. Dein Jochen