Subject: am 4. Mai 2018 To: Cristina Basili From: Ernst Meyer Date: Fri, 4 May 2018 00:05:12 -0400 Liebe Cristina, Vielen Dank für Dein Schreiben. Es wird Dich nicht wundern eine umgehende Antwort, oder jedenfalls umgehend den ersten Teil einer Antwort die sich auf mehere Sendungen erstrecken mag, zu empfangen. Nicht wegen des hohen Pegels der Leidenschaft, wie beträchtlich er auch sein mag, sondern wegen der sich unerbittlich entfaltenden Schwäche meines 88 Jahre alten Gedächtnisses, das morgen vergessen hat was es heute enthielt. Du zitierst dass ich schieb: "Was nun Deine Beziehung zu mir anbelangt, weiß ich dass Du mich um sechzig oder siebzig Jahre, oder mehr überleben wirst. Ich weiß auch das was von mir in Deinem Gedächtnis überlebt, dann, mit meinem Tode, zeitlos wird, und ich befürchte dass die Erinnerung an mich Dich dann vielleicht von einer Ehe mit einem anderen abhalten möchte, weil Du keinen wie mich, - den mein Vater als einen eingebildeten Frosch bezeichnete - je finden wirst. Dann würde ich erst mit dem letzten Ton Deines Cellos verklingen." [Tatsächlich hat er mich einen "aufgeblasenen" Frosch genannt.] und verstehst meine Worte als ein herkömmliches erotisches Liebesbekenntnis. Wenn ich mich nicht täusche, war was ich meinte etwas anderes: nicht Ausdruck geschlechtlicher Liebe sondern großväterlicher Sorge. Dennoch behaupte ich dass zwischen uns in der Deutung meiner Worte keineswegs ein Missverständnis besteht, denn in der Geisteswelt - oder sollte ich schreiben in der Geisterwelt - in der ich lebe, hegt ein jeder von uns ein eigenes Verstehen als Spiegel der eigenen Seele; und für Dein unterschiedliches Verständnis für meine Gesinnung gebührt Dir nicht Rüge, sondern Dank. Wir wissen zu wenig von einander um uns zu verständigen. Meine Frau Margaret, die Schwester meines Studienfreundes Alex McPhedran - mit dem ich noch jetzt regelmäßig telephoniere, ist am 14. Oktober 2015, nach 63 Jahre langer ungetrübt glücklicher Ehe gestorben. Seitdem hab ich viele Stunden, viele Tage damit verbracht die Briefe die wir in den drei Jahren in denen wir warben mit einander tauschten, immer und immer wieder zu lesen, in dem Bestreben besser zu verstehen wer ich war und wie ich zu dem wurde der ich bin. Margaret, damals 25 Jahre alt, war im Dezember 1949, sechs Monate nachdem wir uns wiedergetroffen hatten, zur Ehe bereit; indessen ich, sechs Jahre jünger als sie, zwei weitere Jahre benötigte um mich zur Ehe zu überwinden. Wie schwierig mir der Entschluss zu meine ersten Ehe wurde magst Du, wenn Du zu lesen gelernt hast, folgendem Briefe entnehmen: * * * * * * 30 Grant Street Cambridge, am 15. Januar 1951 Lieber Papa, liebe Mutti, Hoffentlich macht euch meine etwas deprimierte Stimme am Telefon keine Sorgen. Euer Anruf hat mich viel zu viel zum Nachdenken eingeregt, so dass ich schließlich gar nicht mehr arbeiten konnte. Sicherlich wird die Arbeit wieder besser gehen nachdem ich geschrieben habe. Ich habe viel zu tun. Aber wenn mein Studium nun einmal nicht so gut ginge, wie gewöhnlich, angenommen ich erhielte mein Stipendium nicht wieder, dann könnte Margaret ihre Heiratspläne ja gar nicht durchführen, und ich wäre von der Angst, die mich jetzt so bedrückt, befreit. Eigentlich sollte ich solche Gedanken ja nur ihr, nicht Euch schreiben, aber das kann ich schon seit langem nicht mehr. Früher hätte ich das getan, dann hätte ich einen flehenden Eilbrief gekriegt und alles wäre so gewesen, wie zuvor. Die McPhedran Familie ist an solche Krisen schon gewöhnt. Der Vater versorgt Margaret mit Schlafmitteln. Alex, der mir einmal die Befürchtung geäußert hat, dass sie damit Selbstmord begehen möchte, nennt mich dann „bastard“ und “son of a bitch“. Nur die Mutter drückt ihre Sorge in unauffälligerer und weniger kränkender Weise aus. Übrigens schicke ich eine Kopie dieses Briefes an Margaret, ich habe Angst, was geschehen mag. Jedes Mal wenn ich versuche mit ihr zu sprechen, fängt sie an zu weinen, und das kann ich nicht ertragen. Manchmal denke ich, wenn ich überfahren würde, oder wenn ich krank würde, würde ich von meiner Angst befreit. Aber ich werde weder krank noch überfahren werden. Und auch dieser Brief wird nichts ändern. Es wird zu einer Heirat kommen; jeder praktische Ausweg den ich ersinnen kann, ist noch unpraktischer, als bei Onkel Georg auf dem Operationstisch zu schlafen. Diesen Brief aber sollt ihr nicht vergessen. Ich selbst werde ihn später verleugnen müssen. Ich werde erklären, er sei das Resultat von Überarbeitung und Depression. Mir ist als ob ich unterginge und als ob ich nie wieder sprechen könnte. Was auch aus mir werden mag, Ihr sollt wissen, und nicht vergessen – obwohl ihr nicht verstehen könnt, dass es einen Teil von mir gibt, der unbedingt allein sein muss, und der eine Ehe niemals ertragen kann. Der war die unbedingte Geistigkeit, Reinheit, die Keuschheit selbst, das was ich mehr als alles andere liebte, und darum muss ich es verlieren. Ach, mir ist es als ob ich mich zu meinem Begräbnis anstatt zu meiner Hochzeit vorbereitete. Und nun quält mich die Angst vor dem Unvermeidlichen. Ich muss immer wieder zurück nach Chappaqua. Auch dieses ist nur ein Übergang, aber ein längerer. Ich weiß nicht was werden wird. Manchmal befürchte ich, ich würde hinterher geisteskrank. Margaret versteht es nicht. Wenn ich ihr davon erzähle, fängt sie an zu weinen, und wenn ich ihr erzähle, dass sie mich nicht versteht, fängt sie auch an zu weinen. Und so trage ich meine Angst ganz allein für mich. Es gibt kein Mittel dafür, denn das, was mir geholfen hätte, soll ich nun abtun. Ich weiß nicht, was werden wird. Betet für Margaret und mich. Ich danke Gott, dass ich Euch noch habe, und dass ich Euch so schreiben kann. Aber sorgt Euch nicht um mich. Wir sind in Gottes Hand. Euer Jochen * * * * * * In den Jahren 1949 und 1950, war Margaret als Lehrerin an der Brearly School in New York tätig. Im September 1951 übersiedelte sie nach Boston, wo ich im zweiten Jahr meines Medizin Studiums war. Am 11. November 1951, schrieb ich an meine Eltern: * * * * * * "Meine Arbeit geht gut und macht mir Freude. Zwar arbeite ich nicht so viel wie vormals, aber abgesehen von Essen, Schlafen und ein wenig Geige spielen, tue ich nichts anderes. Dabei geht es mir gesundheitlich ganz gut, obgleich mein Magen ab und zu grüßen lässt. Margaret hat sehr viel Arbeit die sie mehr oder weniger befriedigt und um die sie sich viele Sorgen macht, wenn sie nichts anderes hat. Im Augenblick d.h. seit einigen Tagen ist sie deprimiert, weil eine Heirat nicht in Aussicht steht. Das ist auch sehr schwer für mich.... "Inzwischen ist es Nachmittag; wir haben einen Spaziergang gemacht und eine Unterhaltung gehabt. Wir haben entschieden dass es am richtigsten ist wenn wir während der Frühlingsferien heiraten. Ich nehme an dass ihr nichts dagegen einzuwenden habt. Aber wenn ihr irgendwelche Sorgen habt, die sich in einem Brief ausdrücken lassen, sollt ihr sie mir ruhig schreiben. Das erste, was mich Margaret fragte, war ob sie mit mir im nächsten Sommer arbeiten könnte. * * * * * * Die Trauung fand am 8. März 1952, in University Lutheran Church in Cambridge statt. Auf dem Wege zur Kirche kauften wir im Bücherladen in Harvard Square ein Geschenk für Pastor Steimle. In folgenden Jahren hat Margaret oftmals ihre Besorgnis erwähnt, dass ich ihr im letzten Augenblick vom Bücherladen noch ausreißen würde. Aber ich bin ihr nie ausgerissen und habe es nie bereut. Indem sie mir meine Liebe ermöglichte, hat Margaret mich vor mir selbst gerettet. Ich war überzeugt, und bin überzeugt geblieben, dass ich Margaret aus Mitleid für sie geheiratet habe. Liebe und Mitleid konnte ich damals, und vermag ich auch heute nicht zu unterscheiden. Die Psychiater, besonders die Psychoanalytiker hätten einen Heidenspaß mit der Auslegung meiner Abneigung gegen die Ehe. Bewusst war ich mir der Furcht dass die Bindung zu einer nur auch etwas fremden Frau meine geistig- seelische Freiheit, meine notwendige Entwicklung zu jenem anderen Menschen der ich werden müsste, mein unscheibares Künstlertum, beeinträchtigen würde. Mag sein, dass ich mich in der Überzeugung dass dies nicht geschehen ist, täusche. Bin aber überzeugt dass meine Liebe zu Margaret mir das Leben ermöglicht, und vielleicht sogar gerettet hat. Du erwähnst Gunyoung habe Dir als Einführung ein Exemplar des West-östlichen Divans geschenkt. Ein mir wohlbekannter Text. 1948 beteiligte ich mich an einem Referat über Goethes Alterswerke, schrieb einen kleinen (scheinbar verlorenen) Aufsatz und hielt eine kurze Rede über den Divan, der die Verzückung des 65 Jahre alten Dichters mit der 30 Jahre jungen Marianne Willemer beurkundet. Neun Jahre später machte der 74 Jahr alte Goethe in Marienbad der 17 Jahre jungen Ulrike von Levetzow einen vergeblichen Heiratsantrag. Bekanntlich hat Goethe seinen Faust in die Hexenküche geschickt um sich medikamentös verjüngen zu lassen, wo Mephistopheles bemerkt: "Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, Bald Helenen in jedem Weibe." Ich selber aber will nicht verjüngt werden, und lasse mich in keine Hexenküche locken. Auch der zweite Teil vom Faust ist mit den geschlechtlich erotischen Phantasien betreffs Helena durchtränkt. Und der Schluss Faust II ist unmissverständlich: Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche, Hier wird's Ereignis; Das Unbeschreibliche, Hier ist's getan; Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan. Mein eigener Roman "Döhring" beschreibt die verhängnisvollen Konsequenzen der Leidenschaft eines 60 Jahre alten verwitweten Gelehrten für eine dreißig Jahre alte seelisch verunglückte Frauenrechtlerin. In literarischer Perspektive jedenfalls kann ich mit recht behaupten: "Bin there, done that." Was Dich anbetrifft, beeindruckte mich, als wir uns vor anderthalb Jahren begegneten, Dein betontes, bewusstes Künstlertum, das mich als schicksalhaft anmutete, und das Dich unvermeidlich vereinsamt. Ich ahnte eine Gelegenheit Dich ein wenig zu trösten und Dir in Deiner Einsamkeit Gesellschaft zu leisten. Diese Vermutung scheint sich bewährt zu haben. Ich erwarte nichts, ich verlange nichts, ich bitte um nichts. Ein Brief alle vier Monate genügt; aber auch der ist nicht unbedingt nötig. Sonnabend fahren mein Sohn Klemens und ich auf die Insel Nantucket, wo ich vor vierzehn Jahren begann ein Haus zu bauen. Wir beabsichtigen am selben Tage zurückzukehren. Wahrscheinlich hab ich am Montag, den 7. Mai, Gelegenheit zur Fortsetzung dieses Briefes. Dein Jochen