To: Ernst Meyer Subject: AW: am 6. Mai 2018 Date: Sun, 13 May 2018 07:14:19 +0000 Lieber Jochen, Deine Briefe habe ich bedacht gelesen und bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich dich ganz und gar nicht missverstehe, mir aber nicht sicher bin, ob du, genauso wie alle anderen Menschen, die ich kenne, mich oder besser gesagt mein instinktives Gefühl verstehst. Sieh, meinem Gefühl nach, fühlt auch der Vater und Großvater zur Tochter und Enkeltochter eine erotische Zuneigung. Nur wäre es Inzest und er würde in der Gesellschaft als ein Krimineller gelten, wenn er dies auch nur auf irgendeine bescheidene Weise zum Ausdruck bringen würde, besonders heutzutage. Und je mehr du mir über Margaret schreibst, desto überzeugter bin ich von meinem instinktiven Gefühl. Denn auf eine gewisse Art finde ich, bin ich Margaret etwas ähnlich. Ich kannte sie nicht und niemand wird sie je besser kennen, als du sie kennengelernt hast. Jedoch scheint es mir von den Briefen her, dass sie eine sehr sensible Person gewesen sein muss. Sie war meiner Interpretation nach eine Person, die die anderen verstanden hat aber selbst nie wirklich verstanden wurde. Das schließe ich daraus, dass wenn du mit ihr reden wolltest, sie zu weinen anfing und du es nicht ertragen konntest. Sie hatte ein gewisses Gefühl in sich- sei es gut oder schlecht- welches sie nicht anders ausdrücken konnte als mit Tränen. Und du konntest dieses Ausdrucksmittel, die Tränen, nicht ertragen- oder besser gesagt- nicht verstehen. Das mag sich natürlich, da du sagst, es war eine glückliche Ehe, mit der Zeit geändert haben. Du sagst auch- du hättest sie aus Mitleid geheiratet und kannst bis heute noch Mitleid und Liebe nicht unterscheiden. Das bedeutet, dass wir uns verlieben aufgrund des Geliebten Schwäche, nicht aufgrund seiner/ihrer Stärken. Wir wollen, dass es jemandem auf eine Art nicht gut geht, damit wir seine Probleme lösen können. Ich denke das kommt daher, dass wir selbst jemanden brauchen, der uns und unsere Schwächen verstehen soll. Du hast in Margaret eine gewisse Einsamkeit gesehen, die sie unglücklich macht, genauso wie du in mir eine Einsamkeit gesehen hast. Aber vergiss nicht- auch wenn Nathaniel samt Hund zu dir gezogen ist- du bist auch einsam. Du meinst, meine Einsamkeit ist Resultat meines Künstlertums aber meiner Meinung nach liegst du da falsch. Mein Künstlertum ist Resultat meiner Einsamkeit. Eigentlich ist es so, dass ich mich einsam fühle, wenn ich nicht von Musik und Kunst umgeben bin. Musik bereichert mich, denn sie ist lebendig. Denn Musik kann ich hören, ich kann ihr zuhören, sowie man einem interessanten Menschen zuhört. Nun leider treffe ich sehr selten Menschen, die ich als interessant empfinde. Ich bin sehr froh dass ich dich und Gunyoung kennengelernt habe. Es freut mich sehr zu lesen, wie es Nathaniel geht. Ich schätze ihn als Menschen sehr und bin mir sicher, er wird bald die Laufbahn finden, auf die er gehört. Er erinnert mich an einen luxuriösen, schnellen, Zug, in dem die intellektuellsten, gebildetsten, talentiertesten Menschen sitzen, der aber ständig Schienen wechselt, weil er sich nicht sicher ist wohin er genau hinfahren soll. Nimm es ihm nicht übel, wenn er dich nicht zu verstehen versucht, er muss sich zuerst selbst verstehen lernen. Ich bin auch so ein Zug, nur ein anderer, ein etwas langsamerer und introvertierterer... Ich genieße es Umwege durch den Wald zu machen. Der Wald, der mir in Los Angeles sehr fehlt... Herzlichst, Deine Cristina