Subject: Nachtrag 14.1.2017 From: Ernst Meyer Date: Sun, 15 Jan 2017 00:09:23 -0500 To: Cristina Basili Liebe Cristina, Am Anfang unserer Korrespondenz ein Bekenntnis: Ich leide an Treppenwitz. Die Engländer nennen es "staircase wit", die Franzosen "esprit d'escalier", wenn erst beim Absteigen der Treppe vom Versammlungssaal der sprachverlegene Gast sich des Witzes besinnt den er geistesabwesend unterließ rechtzeitig auszusprechen. Daher erweist sich nicht selten der erste Brief als unzulänglich und verlangt Ergänzung mit einem zweiten. Bei der aufwendigen Hölderlinexegese, bei den ungehörigen Vorschlägen, Sie möchten in Erwägung ziehen sich als Nathaniels Berufsberaterin zu melden, vergaß ich die wesentlichste Schlussfolgerung die sich aus den spielerischen Formalitäten unseres keimenden Briefwechsels ergibt, dass ich Ihr Siezen mit begeistertem Humor nachvollziehe. Wenn ich Ihnen als Sie erscheine, dann erscheinen auch Sie mir entsprechend als Sie. Wenn sich Ihr Sie für mich in Du verwandelt dann bist auch Du nicht länger Sie sondern hast Dich als Du entpuppt. Wenn Sie mich mit "Lieber Jochen" anreden, dann hören Sie wie ich Ihnen "Liebe Cristina" zurufe. Es ist zu früh dass wir über αγαπη, φιλια und/oder ερος diskutierten. Die deutsche Sprache hab ich von Nietzsche gelernt, ins Besondere von seiner Unzeitgemäßen Betrachtung über David Friedrich Strauß, Bekenner und Schriftsteller. Da zeigt Nietzsche was es bedeutet die Worte aus denen die Sprache besteht ernstzunehmen. Wie lächerlich wenn man unsere Gepflogenheiten betrachtet: Bühnen der Unaufrichtigkeit mit dem Wappen "Sincerely yours" geschmückt; Kampfplätze von Hass und Verachtung mit der Devise "Yours truly". Bei mir aber fehlt was im Oberstübchen; denn ich schreibe mit Begeisterung, und nicht selten durchauern mich die Worte die ich geschrieben habe. Es geht auch anders: sollten Sie die Anschrift "Sehr geehrte Ms. Basili" vorziehen, so genügte ein einziger Brief mit der Begrüßung "Sehr geehrter (oder Sehr ungeehrter) Herr Doktor", mich umzustellen. (Betrachten Sie bitte vorgehende Sätze als Humorprüfung.) Die wesentliche Schlussfolgerungen die ich betonen möchte sind: erstens dass Ihre Beziehung zu mir von der Beziehung zu Nathaniel unabhänging ist und bleiben muss; und zweitens dass die Art und das Ausmaß, dass Qualität und Quantität dieser Beziehung zwischen uns gänzlich von Ihnen, und nur von Ihnen, von Ihrer Neigung oder Abneigung bestimmt sein sollen. Meine Dankbarkeit bleibt unbeeinträchtigt. Es ist der Vorzug des hohen Alters vieles erlebt zu haben und mit der Enttäuschung auf vertrautestem Fuße zu stehen. Und nun, Ihrem Vorbild gemäß, unterzeichne ich mit jugendlicher Begeisterung: Ihr Jochen