Liebe Cristina, Nochmals Dank für Deine beiden Briefe. Ich hab sie mehrere Mal gelesen. Eine kleine unwesentliche Hundekrise hat meine Antwort verzögert. Du schriebst: "Sieh, meinem Gefühl nach, fühlt auch der Vater und Großvater zur Tochter und Enkeltochter eine erotische Zuneigung. Nur wäre es Inzest und er würde in der Gesellschaft als ein Krimineller gelten, wenn er dies auch nur auf irgendeine bescheidene Weise zum Ausdruck bringen würde, besonders heutzutage." Laut de.Wikipedia ist Inzest nicht die Gesinnung, sondern nur die Handlung: "Inzest (lateinisch incestus „unkeusch“, veraltet auch Blutschande) bezeichnet den Geschlechtsverkehr zwischen eng blutsverwandten Menschen." Zwischen Gesinnung und Handlung besteht ein wesentlicher Unterschied, denn die Gesinnung, - Du nennst sie "erotische Zuneigung" waltet überall und ist mit einem undurchdringlichen geistig-seelischen Gemäuer von der Vollendung abgeschottet. Wenn Du sogar auch die Gesinnung verpönst verlangst Du sehr viel; erinnerst mich an Deinen Namensbruder der am Nordrand des Sees Genezareth predigte: (Matthäus 5) 28 Ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν ὅτι πᾶς ὁ βλέπων γυναῖκα πρὸς τὸ ἐπιθυμῆσαι [αὐτὴν] ἤδη ἐμοίχευσεν αὐτὴν ἐν τῇ καρδίᾳ αὐτοῦ. 28 Jch aber sage euch / Wer ein Weib ansihet jr zu begeren / Der hat schon mit jr die ehe gebrochen in seinem hertzen. 28 But I say unto you, That whosoever looketh. on a woman to lust after her hath committed. adultery with her already in his heart. Entschuldige mich, und erlaub mir dass ich vorerst die Erscheinung dessen was Du als "erotische Zuneigung" bezeichnest, vom Spachlichen, vom Dichterischen überlege. Ich unterscheide das dem Verstädnis unzugängliche unerreichbare tatsächliche Erleben, das jeweils subjektiv einzeln einmalig und veränderlich ist. "Kein Mensch kann es wissen, kein Jäger erschießen ..." Auf dieses unerreichbare Erleben hinweisend und es zugleich verdeckend sind vieldeutige Worte. "Und dass ein Wort nicht einfach gelte, das sollte sich doch von selbst verstehen." (Goethe, Divan) welche in unzähligen literarischen Gebilden von der "erotischen Zuneigung" erzählen, in Gedichten, Erzählungen, Schauspielen, von Anfang an bis heute. Neuerdings in "wissenschaftlichen" Mythen wie etwa von Sigmund Freud. Die Abschriften meines Briefes vom 15. Januar 1951, an meine Eltern und von Margarets Antwort vom 16. Januar 1951, an mich, sind etwas anderes; sind nämlich nicht versuche das Erleben zu beschreiben, sondern in der sorgfältig bewahrten Urkundung "wie es eigentlich gewesen" wiederzugeben. Margarets Gefühle vermagst Du vielleicht, mutatis mutandis, in Deiner Erlebniswelt nachvollziehen. Für die Wiedersprüchlichkeit meines eigenen damaligen Erlebens hab ich auch heute, nach siebenundsechzig Jahren, keine zureichende Erklärung. Einer mir bekannten aber fremden Frau, von der ich vermute dass sie mich heimlich liebte, wurde bei ihrer Psychoanalyse berichtet, ich sei homosexuell, in meinen Schwager verliebt, und hätte Margaret geheiratet weil mir ihr Bruder unerreichbar war. Das ist ein Gedankengefüge welches, soweit ich zu bestimmen vermag, nichts über mich besagt, jedoch alles über die "Psychoanalyse". Bewusst aber war ich in meine "Arbeit" verliebt, war von ihr besessen wie von einem Dämon, und diese "Arbeit" war "dass ich erkenne was die Welt im Innersten zusammenhält" (Faust I) mit dem Ziel schließlich mich selber zu verstehen. So sehr ich Margaret auch liebte, ängstigte mich dennoch die Ahnung dass eine Ehe mich von meinem Ziel ablenken würde. Ob dies geschehen ist oder nicht, wage ich nicht zu entscheiden. Möglich aber dass mir die dreiundsechzig ungetrübten Ehejahre das Leben gerettat haben. Was jedoch Margaret anbelangt so hat sie in diesen vielen Jahren nicht eine einzige Träne vergossen. Aufgeblasener Frosch der ich nun einmal bin, vermute ich eine Ähnlichkeit nicht zwischen Dir und Margaret, sondern zwischen Dir und mir. Als Du mir bei unsrer ersten Begegnung erklärtest "Ich bin Künstlerin," da ahnte ich dass vielleicht Deine Liebe zur Musik und zu Deinem Cello ein Hindernis zu Deiner Beziehung zu anderen Menschen, und zu einer eventuellen Ehe sein möchten, vergleichbar mit meiner Liebe zur Dichtung und zur Schrift, die meiner Ehe im Wege standen. Meine Bekenntnisse aber habe ich Dir in der Vorstellung gemacht dass sie ein wenn auch nur trübes Licht auf Deinen Lebensweg werfen möchten. Ich meinte die Musik sei Trost in Deiner Einsamkeit. Darauf dass die Musik auch die Ursache Deiner Einsamkeit sein möchte, wäre ich nie gekommen; und doch, da Du es erwähnst, erinnere ich des Aristoteles Überlegung, das Ziel, der Telos, möchte als Ursache der Wanderung gelten. Betreffs meiner eigenen Einsamkeit, vielleicht in einem späteren Brief. Über die Beziehung der Sexualität zur Kunst, über die Entwicklung des Eros von der Geschlechtlichkeit zur Liebe zum unbedingt Schönen hat Platon geschrieben. Es war seine atemberaubende Entdeckung, - oder war es eine Erfindung? - welche er der alten weisen und selbst längst nicht mehr begehrenswerten - (und schließlich doch von Hölderlin verjüngten) Prophetin Diotima in den Mund legt: [211ξ] ..... ἀρχόμενον ἀπὸ τῶνδε τῶν καλῶν ἐκείνου ἕνεκα τοῦ καλοῦ ἀεὶ ἐπανιέναι, ὥσπερ ἐπαναβασμοῖς χρώμενον, ἀπὸ ἑνὸς ἐπὶ δύο καὶ ἀπὸ δυοῖν ἐπὶ πάντα τὰ καλὰ σώματα, καὶ ἀπὸ τῶν καλῶν σωμάτων ἐπὶ τὰ καλὰ ἐπιτηδεύματα, καὶ ἀπὸ τῶν ἐπιτηδευμάτων ἐπὶ τὰ καλὰ μαθήματα, καὶ ἀπὸ τῶν μαθημάτων ἐπ᾽ ἐκεῖνο τὸ μάθημα τελευτῆσαι, ὅ ἐστιν οὐκ ἄλλου ἢ αὐτοῦ ἐκείνου τοῦ καλοῦ μάθημα, καὶ γνῷ αὐτὸ τελευτῶν ὃ ἔστι [211c] .... Beginning from obvious beauties he must for the sake of that highest beauty be ever climbing aloft, as on the rungs of a ladder, from one to two, and from two to all beautiful bodies; from personal beauty he proceeds to beautiful observances, from observance to beautiful learning, and from learning at last to that particular study which is concerned with the beautiful itself and that alone; so that in the end he comes to know [211δ] καλόν. ἐνταῦθα τοῦ βίου, ὦ φίλε Σώκρατες, ἔφη ἡ Μαντινικὴ ξένη, εἴπερ που ἄλλοθι, βιωτὸν ἀνθρώπῳ, θεωμένῳ αὐτὸ τὸ καλόν. ὃ ἐάν ποτε ἴδῃς, οὐ κατὰ χρυσίον τε καὶ ἐσθῆτα καὶ τοὺς καλοὺς παῖδάς τε καὶ νεανίσκους δόξει σοι εἶναι, οὓς νῦν ὁρῶν ἐκπέπληξαι καὶ ἕτοιμος εἶ καὶ σὺ καὶ ἄλλοι πολλοί, ὁρῶντες τὰ παιδικὰ καὶ συνόντες ἀεὶ αὐτοῖς, εἴ πως οἷόν τ᾽ ἦν, μήτ᾽ ἐσθίειν μήτε πίνειν, ἀλλὰ θεᾶσθαι μόνον καὶ συνεῖναι..... [211d] the very essence of beauty. In that state of life above all others, my dear Socrates,’ said the Mantinean woman, ‘a man finds it truly worth while to live, as he contemplates essential beauty. This, when once beheld, will outshine your gold and your vesture, your beautiful boys and striplings, whose aspect now so astounds you and makes you and many another, at the sight and constant society of your darlings, ready to do without either food or drink if that were any way possible, and only gaze upon them and have their company..... Platon hat dies geschieben. Ich habe nichts als ihn zitiert. Jochen