Liebe Cristina, Es geschieht mir sehr selten, aber ich vermag einen Deiner jüngsten Briefe in meiner Rechnerkartei nicht aufzufinden. Vermutlich, weil ich mit dem neuen Rechnerprogramm mit dem ich spielte noch verhältnismäßig unvertraut war, hab ich den Brief versehentlich gelöscht. Ich meine aber zu erinnern dass dies der Brief war in welchem Du mir von dem heiligen und lebenspendenden Geist - spiritum sanctum et vivificantem - der Kunst erzähltest und mich auf die im Internet verfügbaren Konzerte des Musica Aeterna Ensembles unter der Leitung von Teodor Currentzis aufmerksam machtest. Ich will den verlorenen Brief beantworten eh seine Spuren auch meinem unzuverlässigen Gedächtnis entschlüpfen. Ich frage mich ob es gefühl- und herzlos von mir ist, Dir unablässlich übende und aufführende Künstlerin, von meinem eigenen diesbezüglichem Erleben zu berichten. Als Student hatte ich mich in die Aula von Harvard, "Sanders Theatre" zu einem Cembalokonzert begeben. Der Künstler, Fernando Valente, erschien; doch eh er zu spielen began, erklärte er mit gequälter Miene dass er wegen fast unerträglicher Zahnschmerzen nur einen einzigen kurzen Satz aus einer Scarlatti Sonate aufführen würde. Unmittelbar danach verließ er die Bühne. Das enttäuschte Publikum zerstreute sich ihm nach. Zwar starb Fernando Valente damals nicht. Ein junger Mensch, nur vier Jahre älter als ich, lebte er noch etwa vierzig Jahre; aber die Begrenzung der Kunst durch die Unzuverlässigkeit des Lebens hat sich mir in scheinbar unvergesslicher Weise eingeprägt. Im 22. Kapitel meines Romans "Vier Freunde" hab ich Kunst und Tod, das Sterben einer Künstlerin bei der Aufführung schwierigster Musik, eindringlich erörtert. http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/freunde/f022.html Falls Deine Neugier Dir keine Ruhe gönnt, wärst Du die erste LeserIn, und vermutlich auch die letzte. Was aber mich selber betrifft, so sind Deine Erwägungen über Kunst, Leben und Tod kaum einschlägig. Denn obgleich ich so tue als ob ich Schriftsteller wäre, etwa wie Till Eulenspiegel von der Magdeburger Rathauslaube zu fliegen vorgab, ist es doch unverkennbar dass weil sich für meine Schriften keine LeserInnen einstellen, ich Dich täusche oder belüge wenn ich mich Dir, und der Welt, als "Künstler" aufdränge. Denn Kunst und Künstlertum sind öffentliche Erscheinungen und bedürfen des Publikums. Das Beten im Kämmerlein ist keine Kunst,[Matthäus 6:6] σὺ δὲ ὅταν προσεύχῃ, εἴσελθε εἰς τὸ ταμεῖόν σου καὶ κλείσας τὴν θύραν σου, πρόσευξαι τῷ πατρί σου τῷ ἐν τῷ κρυπτῷ: καὶ ὁ πατήρ σου ὁ βλέπων ἐν τῷ κρυπτῷ ἀποδώσει σοι. Der liebe Gott kauft keine Eintrittskarten und zählt nicht zur Hörerschaft. Mein Schreiben verhält sich zu Leben und Tod wie mein Atmen. So lange der Körper lebt, atme ich; so lange der Geist lebt, schreibe ich. Dass ich atme, besagt keineswegs dass ich nicht kurzatmig oder gar am Erdrosseln bin. Ebensowenig besagt dass ich schreibe, oder zu schreiben versuche, dass die niedergeschriebenen Gedanken mir heute sinnvoll sind und morgen verständlich sein werden. Von den Werken sterbender Schriftsteller weiß man wenig, denn diese werden im Allgemeinen von den Verlegern wegen des ungünstigen Eindrucks, unterschlagen. Hölderlin ist eine Ausnahme. Dessen Dichtungen als er tief umnachtet war sind veröffentlicht, und in den umdunkelten Gedichten einen Sinn zu finden, hieße die Vernünftigkeit gesunder Überlieferung in Frage zu stellen. Ein wesentlicher Unterschied, liebe Cristina, zwischen Deiner Kunst und meinem Stümpern, ist das Dein Cellospiel ein öffentliches ist und auf der Bühne im Glanz Deiner Gestalt, umgeben von bewundernden Mitspielern und vom Dirigenten gelobt und beglückwünscht, indessen mein Geschreibsel unbeachtet bleibt. Von den sechs Bänden Romane die ich veröffetlich habe, ist bis jetzt kein einziges Exemplar verkauft worden. Dies ist keine Klage. Es is eine sachliche, nüchterne Feststellung. Ich bin zulänglich in der Literaturgeschichte bewandert, zu wissen dass von Zeit zu Zeit bisher übersehene Schriften als "erstklassisch" entdeckt werden. Aber auf postume Entdeckung ist unmöglicher Verlass. Um öffentliche Anerkennung bin ich von jeher gleichgültig gewesen. Ich habe nie etwas geschrieben um einem Publikum zu gefallen. Vielleicht ist das mein Fehler. Statt dessen hat sich im Laufe der Jahrzehnte mein Verständnis der Geistesgeschichte verwandelt. Schon vor etwa 35 Jahren schrieb ich im ersten einleitenden Kapitel meines Romans "Döhring": "Jetzt, in seinem einundsechzigsten Jahre, hatte das Leben ihn zu einem Ziel gebracht; doch war es ein anderes als jenes, welches er sich einst in seiner Jugend gesetzt. Damals hatte ihm die Welt des Geistes als seine eigentliche Heimat vorgeschwebt. In der Musik, der Mathematik, der Philosophie, und vor allem in der Literatur, als Niederschrift dessen, was ein Mensch zu fühlen und zu denken fähig war, hatte er die Erlösung von den Bedrängissen der Gegenwart gesucht. Sein ganzes Leben, seine besten Kräfte, die Schärfe seiner Intelligenz und die Wucht seines Willens, hatte er daran gesetzt sich in der Welt des Geistes ein Zuhause zu schaffen. Nun erkannte er, dass er trotz, oder schlimmer noch, wegen all seiner Anstrengungen sein ursprüngliches Ziel verfehlt hatte. Er kam sich vor, wie ein Wanderer in einer Wüste am Ende seiner Lebenskräfte, dessen letzte Leistung in der Erkenntnis besteht, dass es doch nur eine Fata Morgana war, der er entgegengestrebt hatte. Für Döhring bestand diese abschließende Einsicht in der Überzeugung, dass die literarischen Werke mit deren Studium er sein Leben verbracht, doch keineswegs den unbedingten Wert, den er vorausgesetzt hatte, besaßen. Vermeintlich waren sie ihrer Vortrefflichkeiten wegen überliefert worden. Blickte man aber näher hin, so war nicht zu verkennen, dass ihre Wahl durch den reinen Zufall, oder was dasselbe ist, durch menschliche Willkür, bestimmt worden war. Er konnte sich jetzt den Wert den er ihnen zugeschrieben hatte nur als die Veräußerung seines eigenen Selbstbewusstseins und die Behauptung seines eigenen Willens erklären." Infolge der Anregung von Dir, hab ich mir im Internet Teodor Currentzis Aufführung von Mozarts Requiem in den 2017 Salzburger Festspielen angehört und angesehen. Ich bin musikalisch zu ungebildet um Deine Begeisterung nachzuvollziehen. Die Musik dieses Requiems ist mir sehr sympathisch. Aber die Vorstellungen vom Tode, vom jüngsten Gericht, von ewiger Seligkeit oder ewiger Verdammnis die hier vertont werden, bleiben mir fremd. Ich betrachte es als meine Schuld, dass ich den Weg zum Verständnis den Currentzis mir weisen wollte, nicht finden oder nicht folgen konnte. Mag sein, dass die gegenwärtige Verfassung meines Gemüts eine Wirkung des beständigen Umgangs mit Nathaniel ist, dessen Bemühungen, wie mir scheint sich unentwegt nach außen richten, auf den Eindruck den sein Dirigieren bei seinem Orchester und besonders bei seinen Hörern auslöst; indessen meine Gedanken und Gefühle unverbrüchlich nach innen gerichtet sind. Ich hoffe sehr, dass Du glücklich und zufrieden bist. Jochen