Lieber Jürgen, Dank für Deinen Brief. Vorläufig bin ich noch hier, aber "wer weiß wie nahe mir mein Ende." Wenn ich's bis dahin schaffe, werde ich heute in sechs Wochen achtundachtzig Jahre alt sein. Schreibe ich dass es mir gesundheitlich gut geht, so prahle ich; schreibe ich aber dass es mir gesundheitlich schlecht geht, dann klage ich. Wünsche aber weder zu prahlen noch zu klagen. Wie's mit dem Geist steht wage ich nicht zu beurteilen. Aus Gründen die mir als Arzt unklar sind, wird mein Gehen zunehmend langsamer. Mich zu bücken vermag ich schon seit Jahren nicht mehr. Das Treppensteigen ist sehr langsam aber gelingt immer noch. Auch kann ich, wenn ich mich auf die Lehnen stütze vom Lehnstuhl selbstständig aufstehen. Gehe an einem Stock, aber mit zwei Stöcken ist's leichter. Das langsame vorsichtige Autofahren macht mir bis jetzt noch keine Schwierigkeiten. Mein Führerschein ist noch zwei weitere Jahre gültig; auch die Gültigkeit meiner Approbation als Arzt habe ich erst letzte Woche für zwei weitere Jahre verlängert bekommen. Ob ich selber so lange noch gültig sein werde steht auf einem anderen Blatt. Meine Tage verbringe ich zum Teil mit dem Ansammeln von Urkunden die das Leben meiner Familie und meiner selbst bezeugen. Ich lege sie ab an einem Netzort den ich mir in einem meiner Rechner eingerichtet habe, so dass diese Lebensgeheimnisse, wenn der Rechner angeschaltet und mit dem Internet verbunden ist, aller Welt zugänglich sind. Doch keiner liest was ich veröffentliche, und so bleiben die öffentlichen Geheimnisse, wie es sich gehört, geheim. Die übrige Zeit verbringe ich mit dem Verfassen von Briefen, die ich teilweise, um die Empfänger zu verschonen, zurückbehalte. Auch überlege ich einen Ansatz zum neunten Band meiner Romanserie. Damit muss ich geduldig warten, bis ich eines Morgens erwache mit eindringlichen Vorstellungen wie und was ich erzählen muss. Die gleiche Geduld gebührt der möglichen Zusammenstellung weiterer Gedichte. Du siehst, Jürgen, meine Tage sind wie Schalen die leer bleiben müssen insofern ich sie nicht mehr zu erfüllen vermag. Beklagen tu ich mich keineswegs. Ich betone, wie schon so oft, dass das Leben mich gnädiglich bevorteilt hat. Ich sende Dir und Maria herzliche Grüße, und bedanke mich bei Dir ein weiteres Mal für Deine Besorgnis um uns oerlinghausener Juden. Dein Jochen