"Liebe" Cristina, Wie wir unsere Körper mit Kleidung zieren und verdecken, so zieren und verdecken wir unsere Seelen mit Worten. Dies tun wir betreffs der äußeren objektiven Beziehungen zur Welt. Unsere Natur- und Geisteswissenschaften sind Gefüge von Worten die unser Können zugleich ermöglichen und verstecken. Besonders aber zieren und verdecken wir unsere Seelen mit Worten betreffs unserer innerlichen subjektiven Beziehungen zu anderen Seelen. Und wie es uns drängt zuweilen die Kleidung des Körpers auszubessern, zu wechseln oder gar zu erneuern, so bedürfen wie vergleichbare Erneuerung auch der Seelenkleidung. Das Gleichnis ist zwingend. Wie der augenfälligste körperliche Kleidungswechsel am Meeresstrand, in Gegenwart des unübersichtlichen und deshalb unendlich erscheinenden Meeres, stattfindet, so findet der seelische Kleidungswechsel - ich will nicht schreiben in der Kirche und im Konzertsaal, denn diese sind äußerlich, doch im Erleben von Kunst und Glauben statt. Dabei sind wir bestrebt die körperliche Blöße in der Badekabine, die innerliche Blöße im Seelenkämmerlein zu verhüllen. Vorerst - und auch zuletzt - das Bedenken der Sprachenkleidung mittels derer wir unsere Beziehungen zu einander zu offenbaren und zu verhüllen (to reveal and conceal) bestrebt sind. Wir überwältigen einander mit dem großen Wort Liebe, mit dem wir regelmäßig unsere Korrespondenzen einleiten, und von dem wir doch garnicht wissen was wir damit meinen. Die Alten Griechen jedenfalls bedurften zum mindesten drei Worte, eros, agape und philia, um die verschiedenen Bedeutungsbereiche von Liebe auszusprechen. Letzthin sind alle Worte unzulänglich um dem Erleben auf das sie weisen gerecht zu werden. Eros ist weit mehr und etwas ganz anderes als lediglich Begattungstrieb. Agape bezeichnet der Eltern Liebe zu einander und zu ihren Kindern, aber auch der Geschwister Liebe zu einander und zu den Eltern. Agape bezeichnet auch die Liebe des Einzelnen zur Menschheit, zur Natur, und zu Gott oder dem Göttlichen. Grenzt aber dann und verschmilzt an der Grenze mit Gleichgültigkeit. Vornehmlich aber bezeichnet agape die Liebe des Vaters und des Sohnes zur Menschheit. [Johannes 3:16] Οὕτως γὰρ ἠγάπησεν ὁ θεὸς τὸν κόσμον ὥστε τὸν υἱὸν τὸν μονογενῆ ἔδωκεν, ἵνα πᾶς ὁ πιστεύων εἰς αὐτὸν μὴ ἀπόληται ἀλλὰ ἔχῃ ζωὴν αἰώνιον. Als Kind war mir der Gedanke von meinen Eltern nicht geliebt zu werden, undenkbar. Als Erwachsener ist mir Agape zum Menschen, zur Natur, und zu Gott, Bedingung und Voraussetzung meines Lebens. Im Divan schrieb Goethe: Denn das Leben ist die Liebe, und des Lebens Leben, Geist. Mein Liebeserleben spiegelt sich in der Liebesmystik des deutschen Barock: als Kind war mein Lieblingstext aus der Matthäuspassion: 12. REZITATIV Sopran Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt, daß Jesus von mir Abschied nimmt, so macht mich doch sein Testament erfreut, sein Fleisch und Blut, o Kostbarkeit, vermacht er mir in meine Hände. Wie er es auf der Welt mit denen Seinen nicht böse können meinen, so liebt er sie bis an das Ende. 13. ARIE Sopran Ich will dir mein Herze schenken, senke dich, mein Heil, hinein. Ich will mich in dir versenken, ist dir gleich die Welt zu klein, ei, so sollst du mir allein mehr als Welt und Himmel sein. (Dass Furtwängler diese Rezitativ und Arie aus einer verkürzten Aufführung ausgelassen hat bezeichnet mir den Unterschied zwischen seinem Verständnis und meinem.) Es ist mir nicht nötig geliebt zu werden; es ist mir aber lebensnotwendig, dass ich liebe. Jochen