Belmont, am 21. Mai 2018 Mein liebes gutes Kind, Heute sind seit Deinem Abschied 948 Tage vergangen. Es ist mir peinlich, ich schäme mich diesen dritten Brief an Dich so viele Monate verzögert zu haben; entschuldige mich mit der Erklärung, dass ich jeden Tag, fast den ganzen Tag ununterbrochen an Dich gedacht habe, und mich stundenlang mit Dir unterhalten. Und jeden Abend habe ich mich zu Dir ins Bett gelegt, und habe Dich in meine Arme geschlossen, kaum anders als allabendlich in den dreiundsechzig Jahren vom 8. März 1952 bis zum 13. Oktober 2015. In jener Nacht bist Du fortgegangen und nun ist mein Leben ein wunderbares Träumen von der Vergangenheit mit Dir. Ich verstehe, ich weiß, Du schläfst einen tiefen zeitlosen Schlaf, weiß aber auch dass Du den Engeln mit denen Du Dich jetzt unterhältst die gediegendste und beliebteste der Frauen bist; und ich ahne wie sehr man mich um das Glück fast mein ganzes Leben mit Dir verbracht zu haben, beneidet. Von der Welt wo ich Dich überlebe habe ich weniges zu berichten. Alex hab ich seit Deinem Abschied nicht wieder gesehen. Er ist, wie Du weißt 18 Monate älter als ich, aber obgleich er den Ärzten vertraut, ist er noch am Leben, ohne Schmerzen und in verhältnismäßig guter Gesundheit. Janet ist, wie Du weißt, Dir vor etwa fünf Monaten gefolgt. Ich vermute Ihr habt Euch schon wiedergetroffen und bin zuversichtlich, dass Ihr wo Ihr Euch jetzt befindet aufgehört habt Euch zu zanken. Nach Deinem Abschied hab ich zwei Jahre und zweieinhalb Monate ohne einen anderen Menschen in unserem Hause gelebt. Doch war ich nicht allein, denn Dein Geist behütete und tröstete mich. Klemens erschien in manchen Wochen täglich, in anderen Wochen nur ein oder zwei Mal. Er brachte seine Geige, und übte. Er hat regelmäßig Geigenstunden. Sein Lehrer ist Mitglied des Boston Pops Orchester. Klemens spielt Geige viel besser als ich es je getan habe. Erzählen aber tat er kaum. Sein Spiel aber war das einzige das er mir mitzuteilen hatte. Er hat ein schwieriges, wenn nicht gar ein schweres Leben. Ich meine ihm nur dadurch helfen zu können, dass ich nichts kritisiere, vor allem nicht Laura mit der er verheiratet ist und deren Zufriedenheit daraus erblüht dass sie ihn beherrscht. In Lauras Ehe mit Klemens meine ich ein Spiegelbild unsrer Ehe zu erkennen, meiner Ehe mit Dir. Denn Klemens lässt sich von Laura beherrschen Du Dich hast von mir beherrschen lassen, oder, milder ausgedrückt, wie Du Dich allen meinen Wünschen gefügt hast, - ob es die Umsiedlung 1956 nach Damascus war, das beständige Zusammensein, wenngleich nicht ein Zusammenleben mit meinen Eltern in Konnarock, die Rücksiedlung nach Belmont 1962, die Ausflüge in die White Mountains, nach Cape Cod, nach Plum Island, nach Nantucket, die Wanderungen mit schweren Rucksäcken durch Berg und Tal, besonders die drei oder vier Fahrten ins Felsengebirge mit seinen Bären. Dazu die drei Reisen nach Deutschland. Und Deine lebenslange Hilfe mit meiner ärztlichen Praxis, wo die Patienten erschienen mehr um sich von Dir in Deiner Anmut empfangen zu lassen als wegen meiner ärztlichen Bemühungen. Und was hab ich für Dich getan? Hab unser Pendeln zwischen Massachusetts und Virginia unterbrochen um Deine Eltern in Philadelphia zu besuchen, aber stets nur für eine Nacht, weil ich unfähig war, mich der Gesellschaft anzupassen. Weil ich meinte zu meiner "Arbeit" was immer sie sein mochte, zurückkehren zu müssen. Ich hbe Dich seelisch und körperlich ausgenützt, aber geklagt hast Du nie. In Deiner Beziehung zu mir meintest Du Dein Glück gefunden zu haben. Ich trage eine schwere Schuld.