Lieber Herr Nielsen, Seit meinem jüngsten Brief an Sie ist ein ganzer Monat vergangen und es ist unbestreitbar, dass mein eigenes - und unser aller Leben - um einen Monat kürzer sind. Inzwischen wurden auch meine Schritte merklich beschwerlicher, so dass ich mich fragen muss ob ich in sechs Wochen oder sechs Monaten überhaupt noch vermögen werde vom Sessel aufzustehen. Flüstere mir aber zu, wie im Laufe der Jahre meinen Patienten so oft: Things may not only get worse by themselves in the course of time, they may also get better, selbstverständlich nur für beschränkte Zeit. Die Zukunft ist ein Vorhang der sich nicht öffnen lässt, doch wissen wir mit unbedingter Sicherheit was er verbirgt. Ich erinnere und bedenke Rilkes Strophen über das Todeserlebnis: Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben; das, was man war in unendlich ängstlichen Händen, nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug. Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam, alles, was sich bezog, so lose im Raume flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt. – Aber Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden. Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung reißt durch beide Bereiche alle Alter immer mit sich und übertönt sie in beiden. Duineser Elegie I Bekanntlich, wenn mein eigenes, sich zugegeben auch langsam im Sterben befindendes Gedächtnis mich nicht täuscht, hat Rilke in der Einsamkeit seines Alters sich auf Seancen, auf spiritistische Sitzungen eingelassen, und hat sich mit der Erklärung gerechtfertigt, "... Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden. Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten." Die vernunftbetrunkenen Geisteswissenschaftler, hingegen, (wie auch ich) die sich mit dem vermeintlichen Wissen um Rilke zieren, versuchen die scheinbare Widersinnigkeit ihres Helden die sie so peinlich berührt, zu verschweigen. Indessen bilde ich mir ein dass es mir heute in beschränktem Maße gelungen sein möchte, meine Welt, die schopenhauerische Vorstellungswelt in der ich lebe, umzukrämpeln, wie einen abgetragenen Mantel, so dass mir nun die Nähte mit denen er zusammengeflickt ist, und das flaumige, fusslige Futter das den Geist vor Kälte schützt, unverkennbar in die Augen fallen. Erlauben Sie mir, lieber Herr Nielsen, die Feststellung, dass die Umkrämpelung der Vorstellungswelt nicht nur erlaubt, sondern zum Verständnis dieser Welt unausweichlich notwendig ist. Zugegeben dass die Gefahr besteht beim Umkrämpeln den alten brüchigen Mantel unwiederherstellbar zu beschädigen. Eine solche Gefahr ist unvermeidbar. Dazu die verschiedensten Unterlagen: Mein neuester Lehrer ist Nathaniels junger Haushund der mich tagtäglich darauf hinweist, was es bedeutet dass wir meinen einander zu verstehen beanspruchen. Wenn er mit dem Schwanze wedelnd mir mit seiner Zunge die scheinbar unzulänglich gewaschenen Hände säubert, dann teilt er mir mit, dass er mit der Vorstellungswelt in welcher er lebt leidlich zufrieden ist, und gibt mir Grund zu der Annahme, dass er im Augenblick jedenfalls nicht im Begriff ist mich anzuspringen und mir die Gurgel zu zerreißen, indessen wenn er mich anbellt, knurrt, und mir die Zähne zeigt, ich dessen nicht so sicher zu sein vermag. Das, finde ich, ist eine beträchtliche Verständigung, zwischen dem Hund und mir. Ich "verstehe" ihn gut genug. Dass ich je lernen werde ihn besser zu verstehen, ist unwahrscheinlich. Umgekehrt scheint es mir wahrscheinlich, dass wenn ich dem Hunde wiederholt die Strophen der ersten Elegie die ich vorhin zitierte, vorlese, und ihn nach jeder Vorlesung für sein geduldiges Zuhören mit einem Kloß Hackfleisch belohne, auch er, der Hund, lernen wird die Elegie zu "verstehen", nämlich als Vorspiel zu einem Leckerbissen, bis ihm, jedes Mal wenn ich zu lesen anfange, der Speichel im Munde zusammenfließt der dann über seine rot-schwarzen Lippen träufelt. Warum sollte sein Literaturverständnis einem akademischen Titel, sagen wir, magister artis, nicht genügen? Verstehen wir Literaturkritiker denn wesentlich mehr davon? Zugegeben ist mein Verständnis dieser Strophen der Elegie ein anderes als das Verstehen des hackfleischgierigen Hundes, aber ich wage nicht zu behaupten, dass es gültiger wäre. So ermöglicht denn auch mein neues Verständnis des Verstehens als ein Nichtverstehen die Korrespondenz in das Reich der Toten. Ich habe begonnen meiner verstorbenen Frau Briefe zu schreiben, Briefe die unbeschwert von auch nur dem leisesten Hauch der politischen oder anderweitig gesellschaftlichen Ordentlichkeit, - das sind Worte mit denen ich die Übersetzung des Ausdrucks "Political Correctness" anstrebe, - Briefe also in denen ich versuchen darf alles was ich denke und fühle, ungeachtet der Wirkung meiner Stimmungen auf die Empfängerin auszusprechen. Das war nicht immer so. Am 6. Mai 1950, also vor 68 Jahren, schrieb sie mir: "Dear Jochen, (Yours) is a very harsh letter, more harsh I think than I deserve inspite of my weakness and what you consider indifference; but I'm not indifferent.... For you say that I must not be angry or hurt or upset, but it is so phrased that an indifferent reader or one who saw only my side of it would imagine that you simply wish to avoid responsibility for ... (writing) something unworthy. But I know how hard it is for you; I am not indifferent. I hope that you feel better for having written the letter. I do not think that anything I say in reply can make you feel better. I have said it all before. Yet it must be said again and again and again. It is a ritual, a very strange ritual, which gains meaning and reality in its repetition. If you will look again at my last two letters, you will see the statement and even more the implications of what I must say again." Diese Antwort, wie die vielen anderen Briefe die ich vor Jahren von ihr empfing, die ich immer und immer wieder lese, empfange ich jedes Mal, so auch heute aufs Neue, und jetzt aus dem Reich der Toten; und wenn ich heute und morgen und übermorgen an sie schreibe, sind meine Briefe in bestimmtester und vernünftigster Weise an sie im Unter- oder Oberirdischen Bereich gerichtet. Zunehmend, und schon seit Jahren, empfinde ich Briefe die ich schreibe als die eigentliche Literatur, wenn nur weil sie von allen meinen Bemühungen am wahrscheinlichsten gelesen werden. Entsprechend empfange ich auch alles was ich lese als Briefe an mich, wenngleich von unbekannten längst verstorbenen Korrespondenten. Gestern hab ich den ganzen Tag mit dem Lesen einiger Strophen der 2. Homerischen Hymne verbracht - oder vertan. Εἲς Δημήτραν 1 Δήμητρ᾽ ἠύκομον, σεμνὴν θεόν, ἄρχομ᾽ ἀείδειν, αὐτὴν ἠδὲ θύγατρα τανύσφυρον, ἣν Ἀιδωνεὺς ἥρπαξεν, δῶκεν δὲ βαρύκτυπος εὐρύοπα Ζεύς, νόσφιν Δήμητρος χρυσαόρου, ἀγλαοκάρπου, To Demeter [1] I begin to sing of rich-haired Demeter, awful goddess — of her and her trim-ankled daughter whom Aidoneus rapt away, given to him by all-seeing Zeus the loud-thunderer. Apart from Demeter, lady of the golden sword and glorious fruits, 5 παίζουσαν κούρῃσι σὺν Ὠκεανοῦ βαθυκόλποις ἄνθεά τ᾽ αἰνυμένην, ῥόδα καὶ κρόκον ἠδ᾽ ἴα καλὰ λειμῶν᾽ ἂμ μαλακὸν καὶ ἀγαλλίδας ἠδ᾽ ὑάκινθον νάρκισσόν θ᾽, ὃν φῦσε δόλον καλυκώπιδι κούρῃ Γαῖα Διὸς βουλῇσι χαριζομένη Πολυδέκτῃ, [5] she was playing with the deep-bosomed daughters of Oceanus and gathering flowers, roses and crocuses and beautiful violets, over a soft meadow, irises also and hyacinths and the narcissus, made to grow to be a snare for the bloom-like girl — by Earth and to please the Host of Many, at the will of Zeus 10 θαυμαστὸν γανόωντα: σέβας τό γε πᾶσιν ἰδέσθαι ἀθανάτοις τε θεοῖς ἠδὲ θνητοῖς ἀνθρώποις: [10] a marvellous, radiant flower. It was a thing of awe whether for deathless gods or mortal men to see: Obgleich einige der Worte mir bekannt oder erkannbar sind, wäre mir ohne die Übersetzung das Begreifen des Ganzen unmöglich. Die Musik der Worte auch nur annäherend in der Phantasie zu hören ist mir gleichfalls unmöglich, da es weder mir noch irgend einem anderen gegeben ist sie lebendig ausgesprochen zu hören. Dabei ist's mir ein Mysterium wie Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf ein so umfangreiches Buch über "Griechische Verskunst" zu schreiben vermochte. Dennoch versuche ich die Strophen auswendig zu lernen, als wären sie einst in heutigem Deutsch - oder Englisch - gesagt oder gesungen. In der umgekrämpelten Geisterwelt in welcher ich nunmehr lebe, scheint es mit unverkennbar das für die ursprünglichen Leser - oder Hörer - der Demeter Hymne diese Strophen eine endgültige Wirklichkeit darstellten, vielleicht vergleichbar mit der endgültigen Wirklichkeit für uns zeitgenössischen Schrifttums, alles Geschriebenen, das dichterische, geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche einbegriffen. Ich habe es mir angewöhnt, oder hab ich mich dazu verleiten lassen - nicht nur die schriftlichen vermeintlich "wissenschaftlichen" Veröffentlichungen als wenn auch schäbige Gedichte zu lesen, sondern auch die "Wirklichkeiten" der Astronomen, Physiker, Chemiker, Biologen, überhaupt, - um von den "Geschichtsschreibern" ganz abzusehen, als Dichtungen zu deuten. Ich bin mir des Ausmaßes bewusst, lieber Herr Nielsen, in welchem ich die Schranken des gesunden Menschenverstandes überschritten habe; für Sie ist's eine Gelegenheit die Grenzen senilen Wahnsinns abzustecken. Herzliche Mai-Juni Grüße an Sie beide. Jochen Meyer