Belmont, am 27. Mai 2018 Mein liebes gutes Kind, Ich sitze im Schulstraßenzimmer in der zweiten Anbau-etage, nackt bis auf ein fadenscheiniges kurzärmeliges Hemd, das an diesem leicht bewölkten kühlen Spätmaimorgen kaum genügt, mich warm zu halten. Deshalb will ich mich bald anziehen, und auch erst nach unten in die Küche steigen um mich mit einer Tasse Kaffee zu wärmen. Wenn dies ein Brief wäre an einen anderen, oder eine andere, als Dich, würde ich hier aus Besorgnis den Gedankenfaden zu verlieren noch einige Minuten, wenn nich gar Stunden weiter frösteln. Aber bei einem Brief an Dich geht es mir anders, denn Du bist mir noch heute, zwei Jahre und sieben Monate später, so nah, dass sich, ob ich vergesse was ich sagen wollte oder nicht, die Unterhaltung mit Dir immer wieder mühelos anknüpfen lässt. Nathaniel hat ein neues Gerät zum Kaffeekochen angeschaft, dessen Erzeugnisse zu stark für mich sind. Nach nur einer Tasse fühle ich wie mich ein inwendiges Zittern befällt, wovon ich mit Zuversicht schreibe, dass es bald vorübersein wird. Als ich dann mit der leeren Kaffeetasse an unserem Falttisch, - Du besinnst Dich, - in der Küche saß, hörte ich Nathaniels kräftige tiefe Stimme in lebhafter Unterhaltung mit seinem Radiotelephone, hier sagt man Cell Phone, im heutigen Deutschland wird es "Handy" genannt, für mein Empfinden eine unschöne, fast schmutzige Bezeichnung. Wahrscheinlich bin ich überempfindlich; und möglicherweise hättest Du gegen diesen Ausdruck keine Einwände. Als Nathaniel mich sah, nickte er mir zu, und, ohne auch nur ein einziges Wort mit mir getauscht zu haben, drehte sich um und verließ die Küche. Jetzt höre ich ihn unten, in der ersten Etage, - ich sitze und schreibe in der zweiten - höre ihn noch immer telephonierend, ob mit dem vorigen oder mit weiteren Gesprächsgenossen vermag ich natürlich nicht festzustellen. An einer Unterhaltung mit mir aber ist ihm nur dann gelegen wenn es um eine neue Forderung geht. In diesem Zusammenhang muss ich bekennen, dass seine Gleichgültigkeit mich mich keineswegs schmerzt; ich empfinde sie im Gegenteil als Erleichterung die mich von der Erwiderung eingebildeter Sympathien befreit. Dass ich mir um ihn Sorgen mache will ich nicht leugnen, aber auch die sind vielleicht überflüssig. Ich weiß es nicht. Bei meinen kritischen Erwägungen frage ich mich, ob Nathaniel denn wirklich ein von mir so verschiedenes Wesen hat. Ich sehe ihn als Schauspieler. Er will, er muss erscheinen, auftreten, darstellen, erkannt, anerkannt, bewundert, beklatscht, applaudiert werden. Sein neuer Hund gehört zu der Schauspielerrolle in die er sich gefügt hat, in der er sich gefällt, und die ihm nun lebensnotwendig erscheint. Ich muss mich fragen? Bin ich wirklich anders? Ist nicht mein Leben gleichfalls ein sich Ausstellen, die Behauptung eines Dranges etwas Besonderes zu sein? Exhibitionmus, wenngleich auf einer anderen, auf eine vorgestellten Bühne? Liegt nicht der Unterschied zwischen Nathaniels Exhibitionismus und dem meinen in den Wesen der verschiedenen Bühnen die er und ich bedürfen? (Beim Schreiben dieser wenigen Sätze, bin ich schon mehrere Mal eingeschlafen. Das Alter hat mich eingeholt.) Ist nicht vielleicht die Tatsache dass ich äußerlich versagt habe die zwingende Erklärung für meine Innerlichkeit? Hab ich nicht die von mir selber so hoch geschätzte eigene Besonderheit verinnerlicht, weil sie äußerlich unanerkannt blieb? Liebe Margaret, ärgere ich Dich oder langweile ich Dich mit diesen Gedanken? Wie viele Jahre hindurch hast Du mich nicht mit engelhafter Geduld angehört! Ich meine entdeckt zu haben, dass ich mich der Sprache bediene, nicht anders als wir alle uns der Sprache bedienen, um mir eine Welt zu schaffen in der ich bedeutsam, zufrieden und geschützt bin. Denn abwesend dieser Bemühungen wäre ich in grenzenlosem Unsinn verloren. Ich möchte Dir von Cristina erzählen. Sie eine junge Frau mit der ich von Zeit zu Zeit Briefe austausche. Sie ist mir vor anderthalb Jahren einmal kurz begegnet. Seitdem haben wir uns nicht wieder getroffen. Aus dieser ursprünglichen Begegnung hat sich eine dürftige Korrespondenz entsponnen. Weder Cristina noch ich hegen ein Bedürfnis uns ein zweites Mal zu treffen. Gott weiß, Cristina ist alles andere als ein Ersatz für Dich. Nathaniel hat Cristina, soviel ich weiß, in diesem Sommer vor drei Jahren, also einige Monate vor Deiner großen Reise, bei ein Konzerttour in Estland aufgegabelt; hat sich auf seine Weise in sie verliebt, und hat sie als Solistin für eine Aufführung des Cellokonzerts von Antonin Dvorak engagiert. Cristina aber hat sich der Musik, der Kunst geweiht, mit eben der Leidenschaft mit welcher manch andere Frau in vergangenen Jahrhunderten als Nonne ins Kloster geflohen ist. Nathaniel hatte mir Cristina und ihre Eltern - sie ist das einzige Kind, als Österreicher vorgestellt. Zu den Dvorak Konzerten in Belmont und Cambridge würde Cristina aus Los Angeles, wo sie zur Zeit studierte, die Eltern Cristinas aus Wien zu ihrer fast abtrünnigen Tochter nach Belmont kommen. Für die wenige Tage ihres Besuchs, wohnte Cristina nebenan in dem Haus das ich Klemens und Laura geschenkt hatte. Derweil bewohnten Cristinas Eltern das Zimmer in der ersten Etage des Anbaus das Du und ich the Garden Room nannten. In unserem Esszimmer fanden die von Cristinas Mutter, Ariadne Basili-Canetti, kunstvoll vorbereiteten fast festlischen Mahlzeiten statt, zu denen nicht nur nebst Cristina und Nathaniel nicht nur Klemens und Laura erschienen, sondern an einem Abend sogar Nathaniel Mäzen, Benjamin Zander. Ich hatte mich bei dem Besuch der Familie Basili aus Wien auf die Gelegenheit gefreut Deutsch zu sprechen; aber in dieser Hoffnung wurde ich enttäuscht, denn Herr und Frau Basili sind weder Österreicher noch sind sie Deutsche. Vielmehr nach Österreich verpflanzte Griechen mit nur dürftigem Deutsch die unter sich auf Griechisch verhandeln, mit dem Ergebnis dass ich, ins Besondere bei zunehmender Taubheit, ihre Unterhaltungen fast garnicht verstand, und ihnen bei Gelegenheit die Frage stellen musste: Sprechen die Deutsch oder sprechen sie Griechisch? Cristina aber dünkt mich in ihrem Künstlertum vereinsamt. Sie meint sich für Denken und Dichtung zu interessieren, und ihre seltenen Briefe sind Versuche auch auf diesen Gebieten künstlerische Fähigkeiten zu entwickeln. Ihre Briefe an mich, beantworte ich, wegen meines unverlässlichen Gedächtnisses, umgehend. Cristina verspätete Antworten empfange ich dann in vier bis sechs Monaten. Unsere Beziehung ist in dem Briefwechsel restlos beurkundet. Bei Gelegenheit werde ich ihn Dir zusenden. Inzwischen bin ich in meinem Schreiben unterbrochen worden. zwecks Beobachtung des Einbaus in unseren Hinterhof eines etwa 23 Meter langen Drahtseils auf dem ein zweites, zwei Meter langes Seil daran Nathaniels Hund befestigt wird, hin und her rollt. Diese neue Einrichtung, meine ich, sollte die Hundespaziergänge wozu sich Klemens mehrere Mal in der Woche opfert, überflüssig machen. Es scheint problemlos zu funktionieren; oder in mehr verhaltenem Tenor: Die neuen Probleme die es darstellen wird, sind noch nicht erschienen. In den jüngst vergangenen Tagen, hab ich viele Stunden mit dem Lesen griechischer Dichtung verbracht, ins besondere mit der sogenannten Homerischen Hymne No. 2 die an Demeter gerichtet ist. In den Monaten nach Deinem Abschied hatte ich einen Sonettenzyklus gedichtet wo Deine Mutter als Demeter erscheint, Du als Persephone: Entführung Gekommen bist Du, Freundin lang erdacht, zu mir ins Elternhaus wo ich die Zeiten des einsamen Exils sehnend verbracht, mich nun in eine neue Welt zu leiten. Auch Du in dieser Welt warst nicht zuhaus. Drum umgekehrt ist es mit uns verlaufen. Joyce lockte uns ins schmutz'ge Irrenhaus. Wir ließen uns stattdess von Shakespeare taufen. Zusammen fanden wir den Weg nach innen zur Kunst, zur Dichtung, zur Musik, zum Frieden. Doch Deine Mutter meint es sei von ihnen Persephone in düstre Welt geschieden. Nicht Unterwelt wohin ich Dich entführte Es war zur Geistigkeit die Dir gebührte. Ich meine entdeckt zu haben dass im Gedicht die Worte eine Wirklichkeit erhalten die sie anderweitig entbehren. Demgemäß erscheint mir nun die Sprache, alle sinnvolle, gültige Sprache, auch die Sprache der Geschichtsschreiber, der Geisteswissenschafler im Allgemeinen, aber besonders die Sprache der Naturwissenschaftler, ein Gefüge das unwissentlich nur als Gedichtgeflecht wahr und sinnvoll ist, und dass die Wirklichkeit auf die gewiesen wird nichts mehr und nichts weniger ist als Dichtung. Diese so unkonventionelle Behauptung moechte als unwiderlegbares Zeugnis für den senilen Wahnsinn der mich befallen hat gelten. Es ist zehn Minuten vor Mitternacht. Ich gehe zu Bett. Bis ich schlafe denke ich an Dich. Wenn ich eingeschlafen bin, träume ich von Dir. Wenn ich erwache schreibe ich Dir einen neuen Brief. Wenn ich nicht erwache, bin ich bei Dir.