Belmont, Mittwoch, am 30. Mai 2018 Mein liebes gutes Kind, Heute Morgen überwältigt mich die Sehnsucht nach Dir. Um Dir näher zu kommen lese in den Briefen die Du mir im Frühjahr 1951 sandest. Das waren die Wochen in denen Deine Liebe zu mir Dich veranlasste nach Boston umzusiedeln. Es war für uns eine schwere Zeit, obgleich aus siebensechziger Jahre Ferne betrachtet, jene Tage doch die wunderbarsten in meinem Leben hätten sein sollen. Werde ich jetzt dafür bestraft, dass ich so lange zögerte Dich zu heiraten? Am kommenden Sonntag, in vier Tagen also, fahren Klemens und ich nach Konnarock, wahrscheinlich, wie üblich, mit einer Durchfahrt von 16 Stunden. Seit mehreren Jahren hat man die erlaubte Geschwindigkeit in Virginia von 65 auf 70 Meilen pro Stunde erhöht. Durch diese Änderung ist die Reisezeit um etwa eine ganze Stunde verkürzt. Und wenn wir dann, wahrscheinlich gegen Mitternacht, auf unserem kleinen Berge ankommen, fahren wir durch eine Wiese von Gras fast so hoch wie der Hafer dort vor siebzig Jahren eh das Haus gebaut wurde. Vor etwa zwei Monaten ein Telephonanruf von Jeane mit dem Bericht dass sie ihr Haus verkauft hätte und im Begriff wäre nach Abingdon umzuziehen. Dies hat sie nun getan. Unser Haus hat sie im Stich gelassen, obgleich ich ihr noch am 1. April vierhundert Dollar geschenkt habe es zu betreuen. Was nun aus dem Haus werden wird weiß ich so wenig wie was aus mir werden wird. Bis jetzt ist das Haus selbst, jedenfalls gemäß der Überwachungsbilder, unversehrt. Erst einmal, am Sonntag, die Fahrt mit Klemens, ungezählte Wiederholung der Fahrten die wir drei von 1962 bis 2014 - im Lauf von 52 Jahren hin und her gemacht haben. Das erste Mal, ich besinne mich noch heute, war am 13. oder 14. Juni 1951, ein paar Tage nach Viëtor's Tod. Als ich am 11. Juni mit dem Auto in die Grant Street in Cambridge zurückgekehrt war, berichtete Alex mir dass Viëtor, für den ich während des Sommers zu arbeiten beabsichtigte, gestorben sei. Am selben Nachmittag machte ich einen Spaziergang durch Harvard Square, Brattle Street hinan, bis Sparks Street, wo Mutz mich aufgabelte, mich nach Hause, zurück nach Grant Street begleitete, auf mein Bett sprang und mich adoptierte. Am nächsten oder übernächsten Tage sprang er mit ebenderselben Entschlossenheit in mein Auto und begleitete mich nach Germantown. Ich besinne mich, wie peinlich mir Mutzens Anwesenheit war weil Deine Mutter ihn nur zögernd willkommen hieß. Aber schon ein oder zwei Tage später fuhren wir drei im Auto nach Konnarock. Ich besinne mich, über den Skyline Drive, und wie Mutz vom Parkplatz an der großen Halde kurz vor der Kreuzung wo US 211 sich rechts nach Luray hinab ins Tal schlängelt, die Kuhherde anbellte; besinne mich auch auf den Flecken an US 11 bei Arcadia wo ich so müde wurde, dass ich den Wagen anhielt damit wir drei Gelegenheit hätten ein paar Stunden zu schlafen. Das war die einzige Fahrt mit Mutz. In den folgenden Jahren habe Du und ich sie oft genug erst allein, und dann zusammen mit Klemens gemacht. Besinne mich auf das Übernachten, meist in Big Meadows, zuweilen aber auch in Skyland, und auf die Seitenwanderungen zu benachbarten Wasserfällen oder Bergesgipfeln. Einmal kletterten wir sogar auf "Old Rag". Das waren die Jahre als Deine Eltern noch in Germantown oder Mt. Airy lebten, wo bis auf den Turnpike von Carlisle nach Philadelphia, die Autobahnen noch nicht gebaut waren. Später gewöhnten wir uns in einem Motel in Carlisle die 850 Meilen weite Reise zu unterbrechen. Späters noch kam es oft vor, dass wir die 17 stündige Fahrt an einem einzigen Tage erledigten. Was möchte es besagen, mein liebes Kind, dass ich Dir dies alles wiedererzähle jetzt, zwei Jahre und sieben Monate seit dem Du fortgegangen bist? Mag sein, dass es eine Welt außer mir gibt, aber die einzige Welt die ich kenne, besteht lediglich in meinem Gemüt. Die Vorstellung im Gemüt ist die einzige unmittelbare Aktualität. Dessen, dass diese Vorstellung dynamisch ist, dass sie verfällt um auf neue, in verwandelter Gestalt zu walten, ist mir unverkennbar. Inbegriffen in meine Vorstellung ist auch eine mögliche, eine erweiterte, eine potentielle Welt, der ich ausgesetzt bin, der ich mich bieten muss, durch die meine Vorstellung in unvermeidlicher Weise verwandelt wird, eine potentielle Welt welche wie eindringlich immer sie meine Vorstellung beeinflusst, diese dennoch nicht zu ersetzen vermag. So scheinen mir meine Briefe an Dich das Verständnis meiner selbst und der Welt in welcher ich mich befinde zu bestätigen, es sei denn dass alles, das ganze Leben, das gesamte Dasein, nichts mehr ist als ein Traum.