Donnerstag, am 31. Mai 2018 Mein liebes gutes Kind, Es ist noch Vormittag, viertel vor zwölf. Ich war etwa um acht Uhr aufgestanden, hatte mein Bett zusammengezogen, hatte mir dann Aufzeichnungen über das Leben als Wanderung gemacht, als der fortwährende Vorgang die Außenwelt zu verinnerlichen, eine Heimat, eine Beheimatung (in der Natur) zu finden, unvermeidlich innerlich und heimlich. Dies alles Verwirklichung von Oikeiosis, der neo-platonischen Lehre dass es die Aufgabe des Menschen ist, wie auch die Aufgabe aller Tiere, in der Welt in der er zufällig lebt, sich sein Zuhause zu schaffen, also ein Genist für Seele und Geist zusammenzufügen. Das meine ich in den verstrichenen achtzig Jahren angestrebt zu haben. Vor anderthalb Jahren etwa, habe ich Dir ein Sonett darüber geschrieben: Oikeiosis Das Schlüsselwort der Weisheit heißt Erleben. Mit diesem Wort ist mir die Welt gegeben. Erschließt die Schellen sachlicher Berichte, Streift ab das Zwangsjackett der Weltgeschichte. Erlebt heißt Leid ins Innere verwoben, Geschehn geschleust durchs Tor des eignen Ich. Die Seelenangst im Herzen ist zerstoben. Was einst bedrohte jetzt begeistert's mich. In der erlebten Welt leb ich in Frieden. Furcht, Sorge, Unmut sind geschieden. Der Zeit Verwirrung wird mich nicht mehr stören weil Dinge die bedrohten mir gehören. In der erlebten Welt leb' ich alleine. Nichts ist mir fremd, doch Freunde hab ich keine. * * * * * * Nachdem mir diese Gedanken durch den Kopf gegangen waren, hab ich geduscht, und sitze noch jetzt im Bademantel vor meinem Rechner. Doch bin ich müd'; bald schlaf ich wieder ein. Ich sehn' mich heute Nacht bei Dir zu sein. Wenn ich die Briefe lese die wir 1949 bis 1951 mit einander wechselten, fällt mir auf wie häufig wir uns des Wortes "Gott" bedienen. Das gleiche wenn ich in den Homerischen Hymnen lese. In diesen, kaum verwunderlich, sind Götter und Göttinnen menschenähnliche Gestalten denen der Leser und vermutlich ebenso der Dichter, die eigenen Gedanken und Gefühle zuschreibt um diese Gedanken und Gefühle auszudrücken ohne von ihnen überwältigt zu werden. Demgemäß ist es dienlich die göttlichen Gestalten auf der Vorstellungsbühne wie Menschen erscheinen zu lassen, von denen man annehmen mag dass sie tief unterirdisch oder im Himmels Wolken, oder auf dem Gipfel einen unerreichbar hohen Berges etwa des Olymps wohnen. Mir scheint dass in unseren Briefen der Gottesbegriff eine vergleichbare Bedeutung hat, als Träger von Gedanken die zu schwer, zu hoch oder zu tief für unsereiner sind. So schriebst Du mir am 16. Januar 1951: "What more can I tell you. So far as they exist, those are my "plans." I hope God will find better ones for me." In diesem Rahmen erscheint "Gott" als "alter ego", als ein anderes Ich, als Vertreter eines weiteren Ich mit Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen welche über die mir gegenwärtig verfügbare Subjektivität hinausgehen. Durchaus vergleichbar, so scheint mir, mit den Göttern der Homerischen Hymnen - oder des Altertums überhaupt. Beim Lesen heute Morgen ist mir ein weiteres Beispiel aufgefallen. Die King James Version (KJV) Übersetzung von Micah 6:8 lautet: 8 He hath shewed thee, O man, what is good; and what doth the Lord require of thee, but to do justly, and to love mercy, and to walk humbly with thy God? Indessen Luther übersetzt: 8 Es ist dir gesagt / Mensch / was gut ist / vnd was der HERR von dir foddert / nemlich /Gottes wort halten / vnd Liebe vben / vnd demütig sein fur deinem Gott. In der Septuaginta heißt es: 8 εἰ ἀνηγγέλη σοι ἄνθρωπε τί καλόν ἢ τί κύριος ἐκζητεῖ παρὰ σοῦ ἀλλ’ ἢ τοῦ ποιεῖν κρίμα καὶ ἀγαπᾶν ἔλεον καὶ ἕτοιμον εἶναι τοῦ πορεύεσθαι μετὰ κυρίου θεοῦ σου und in Hieronymus Vulgata: 8 indicabo tibi o homo quid sit bonum et quid Dominus quaerat a te utique facere iudicium et diligere misericordiam et sollicitum ambulare cum Deo tuo Die Frage also: Was bedeutet es, dass Luther den Ausdruck κρίμα, der tatsächlich "to do justly", iudicium, oder Gerechtigkeit meint, mit "Gottes wort halten" übersetzt. "to do justly" iudicium, und Gerechtigkeit sind Ausdrücke einer äußerlichen, gesellschaftlichen Bestimmung wie sie von einem Richter gefällt würde; indessen Luthers ungenaue oder ungetreue Wiedergabe seine Überzeugung bekundet, dass die erforderliche Gesinnung nicht von außen erzwungen sein kann, sondern von innen erwachen oder erwachsen muss. Ist nicht alles (fromme) Denken ein Beten? Wofür? Für Verwirklichung des Heiligen. All die Lebensziele die mir vorschwebten hab ich verfehlt. Ich bin nicht reich geworden, ich bin nicht bekannt geworden, ich habe keine Professur erlangt, ich bin kein Politiker geworden, nicht einmal ein versagter, geschweige denn ein erfolgreicher; meine Bücher werden von keinem gelesen. Mit allem das ich versuchte, hab ich versagt. Ich bedenke die Möglichkeit, dass ich vielleicht mein Leben vergeudet habe. Täusche ich mich, betrüge ich mich wenn ich vorschlage, dass ich dies Leben zu der Verfertigung eines aufwendigen Genists verwendet habe? Dazu gehörte auch Verständnis von - nicht für - Sklaverei, Tyrannei, Folter, Gefängnis und KZ. Ich frage mich, ich frage Dich, hätte ich besseren Nutzen aus meinem Leben ziehen können? Und wenn, was wäre dieser mehr wertvolle Gebrauch gewesen? Mein liebes Kind, bitte entschuldige, dass ich Dich mit diesen Hirngespinsten belästige.