Liebe Gertraud und lieber Bernd, Euern Brief vom 9. Juni 2018 erhielt ich umgehend, mit elektronischer Geschwindigkeit, noch am selben Tage, vorgestern, Sonnabend, als Klemens und ich uns auf die Rückreise nach Belmont vorbereiteten. Am nächsten Tage, Sonntag um halb elf, fuhren wir ab, und kamen dann nach ununterbrochener Autofahrt gegen Mitternacht in Belmont an. Die dreizehneinhalb stundenlange Reise bot mir reichlich Zeit Euern Brief an mich, und meine Antwort an Euch, zu überlegen. Mitte April benachrichtigte mich Jeane Walls, - Ihr erinnert Euch an sie! - die Pflegerin erst meines Vaters, dann meiner Mutter deren Sterbensjahren, und schließlich während der letzten fünfzehn Jahre, die Wärterin des Hauses das meine Eltern mir vererbten, dass sie Jeane, ihr eigenes Haus verkauft habe und alsbald in den benachbarten Kreishauptort Abingdon übersiedeln würde. Das tat Jeane, und ließ uns, jedenfalls mit dem Rasenmähen im Stich. Als wir Sonntag vor einer Woche in Konnarock ankamen, war das Gras ums Haus kniehoch. Die neuen Nachbarn welche sich nun an der Überwachung des Hauses beteiligen möchten sind Ed Tracy und sein Gattin Carolyn, geb. Shumate, deren jetzt verstorbener Vater, John Shumate, mein einstiger Spielkamerad, als amerikanischer Soldat bei Kriegsende meine Großeltern mütterlicherseits in Berlin-Nikolassee besuchte, und deren Großvater, Roy Shumate, am Bau des einstigen "Konnarock Medical Center" beteiligt war. Ed Tracy, Carlyns Gemahl in einer zweiten Ehe, war in Berufsjahren ein Beamter in der CIA, der nun im Alter bestrebt ist sein einstiges Tun und Handeln durch besondere menschenfreundliche Hilfbereitschaft aufzuwiegen. Er wird das Gras ums Haus mit seinem Aufsitzrasenmäher scheren, um mit berufsmäßiger Sachkunde dem siebenundzwanzig Jahre lang leerstehenden Haus den trügerischen Anschein des Bewohntseins zu verleihen. Die Ursache weswegen ich meiner Gewohnheit zuwider, es unterlassen hatte Euern letzten Brief rechtzeitig zu beantworten war nichts mehr oder weniger als mein 88 Jahre altes, seniles Gedächtnis. Ursprünglich unschlüssig wie und was ich Euch antworten sollte, hatte ich meine Antwort so lange aufgeschoben bis ich vergessen hatte, dass ich sie Euch noch schuldig war. Und auch heute am Spätnachmittag, wo sich die Sommersonne gegen die Giebel der gegenüberliegenden Wohnhäuser neigt, bin ich mir nicht klar mit welchen Gedanken, mit welchen Worten ich Euch grüßen, Euch unterhalten, Euch amüsieren, oder Euch anderweitig von meinem komischen eintönigen Leben erzählen sollte, wo ich doch selber der eigenen Worte längst so überdrüssig bin. Ich entbehre die Begeisterungen mit welchen Ihr die Insekten, die Vögel, die Blumen, das Grün der ausschlagenden Bäume begrüßt. Mein Blick ist, wie Ihr wisst, ins Innere, auf die Bilder - und Vorstellungen - einer unerreichbaren Vergangenheit gerichtet, und was ich dort zu erkennen meine verlangt in dringender Weise gesagt und beschrieben zu werden. Deshalb abgesehen von der vergangenen Woche in Konnarock, wo Klemens und ich vollständig mit der Instandsetzung des Hauses, des Rasens, der Fernsehüberwachungsanlage, und am Wesentlichsten, mit der Herstellung neuer gesellschaftlicher Beziehungen zu neuen Nachbarn beschäftigt waren, ohne Gelegenheit zu etwas anderem, verbringe ich die mir noch übrigen Stunden, Tage, Wochen, und vielleicht Monate und Jahre, mit Schreiben von Aufsätzen, Geschichten, und Gedichten, wohlbemerkt, lediglich an mich selber gerichtet, - denn ich kann von keinem Anderen erwarten oder gar verlangen, meinen Gedanken in die Einbildungs- oder Erfahrungsabgründe zu folgen, die ich meine entdecken und erforschen zu müssen. Ich gebe zu, dass es wahnsinnig ist Bücher für Keinen zu komponieren, und wahnsinniger noch, wie ich mich gewöhnt habe, Briefe an Margaret im Totenreich aufzusetzen, wo es doxh dort keine e-mail Adressen gibt, von wo ich kein Echo, geschweige denn eine Antwort zu erwarten habe. Nur Sinnvolles ist mitteilbar. Demgemäß ist es unmöglich Euch über den Inhalt meines Wahnsinns in Kenntnis zu setzen, wobei ich die Tatsache dass ich verrückt geworden bin, Euch nicht verhehlen würde, selbst wenn ich es vermöchte. Bleibt zufrieden und gesund, und empfehlt mich allen Käfern, Ameisen, Fliegen, Wespen und Bienen die Euch begegnen. Euer Jochen