Die Vergangenheit ist das nicht mehr Erreichbare. Die Zukunft ist das noch nicht Erreichbare. Der Glaube an die Geschichte ist der Glaube an die Zeit, an die Vergangenheit und an die Zukunft, ist aber das Leugnen der ewigen unmittelbaren Gegenwart; ist die Verschreibung im Rückblick an den Tod, und im Ausblick an die Ewigkeit eines verloschenen und eines künftigen Lebens, statt des jetzigen. Das Wort vertilgt die Zeit, oder scheint dieses zu tun, insofern ich voraussetze dass ein Wort welches ich heute lese, denselben Sinn, denselben Inhalt hat, wie das gleiche Wort das vor dreißig, vor drei hundert, vor drei tausend Jahren niedergeschrieben wurde. Gewissermaßen eine Täuschung, denn das Wort bekommt seinen Sinn nur indem es verstanden wird; und das Verstehen ist zu jeder Zeit Funktion und Spiegel des jeweils Verstehenden. Der Sinn dieses Wortes scheint ein ewig gleichbleibender, - kann es aber nicht sein, denn es verlangt verstanden zu werden, und das Verstehen ist umständlich bedingt. In ähnlicher Weise der von Jahr zu Jahr, von Jahrhundert zu Jahrhundert bewahrte Gegenstand, als Denkmal dessen Bestehen die Zeit zu vernichten scheint; und dennoch nicht, denn auch das Denkmal muss wahrgenommen werden, und jedes Wahrnehmen ist ein Neues das der Vergangenheit spottet. Dies die Vorahnung des Lesens von Schweitzers Kultur und Ethik, ein Buch das aus Konnarock seit Jahren verschwunden war, das Klemens in seiner großzuügigen Weise für mich bestellte - wo ich selber nie das Geld dafür ausgegeben haben würde. Klemens legte es mir gestern auf den Küchentisch; ich habe inzwischen die ersten 44 Seiten, wenn auch mit dem Vergrößerungsglas, gelesen und bedacht. Die ironische Dialektik, dass Schweitzer es im afrikanischen Urwald während des ersten Weltkrieges schrieb, in selbst-verhängter Verbannung aus einem Europa in dem er nicht länger zuhause zu sein vermochte, und dass er dennoch meinte mittels seines Evangeliums, retten zu können. Soeben hab ich Geschichte erzählt, hab einen Bericht von einer Vergangenheit gegeben von der ich behaupte dass sie mit der Gegenwart unvereinbar ist, und dass der Bericht die Zeit zersetzt. Oder wäre es umgekehrt, dass es mein Gedächtnis ist welches die Geschichte ermöglicht und somit das zeiterfüllende Geschehen erst schafft? Dann würde meine Besessenheit auf Vernunft das Leben unmöglich machen. Damit wäre Schweitzers Behauptung, dass Kultur und Ethik die Ergebnisse eines folgerichtigen vernünftigen Denkens sind, sozusagen auf den Kopf gestellt. Mir scheint dass was Schweitzer Kultur nennt, nichts mehr oder weniger ist als ein geistig-seelisches Gefüge, das ihm die von den ausgestorbenen Religionen hinterlassene Leere auszufüllen geeignet scheint; dass die wahre Philosophie die er den gewöhnlichen Menschen mundgerecht machen will, tatsächlich nichts mehr oder weniger ist als Ersatzreligion. Schließlich ist dies Buch nur als ausgedehnte Prosa-elegie zu verstehen, das in keiner anderen Wirklichkeit als der Wirklichkeit der Sprache wurzelt, ein Hinweis dazu auf die Tatsache dass letzten Endes nicht nur geisteswissenschaftliche Erzeugnisse, sondern vielleicht noch folgenschwerer, auch naturwissenschaftliche Darstellungen, letzten Endes nur als Dichtung, nur als Poesie verständlich sind.