am Freitag, den 15. Juni 2018 - morgens Mein liebes Kind, Ohne Dich ist es ein trüber Morgen. Ich sehne mich nach Dir. Ich möchte noch heute bei Dir sein und frage mich ob mir dieser Wunsch erlaubt ist. Den gestrigen Abend hab ich mit dem Versuch verbracht - oder sollte ich schreiben vertan, auf einem meiner Rechner das Überwachungsprogramm, Motion genannt, zu überholen. Wir haben nämlich neuerdings auch auf Nantucket die schnelle Internet Verbindung welche neue Anwendungen des Motion Programms ermöglicht. Vielleicht ist es mein Alter, die zunehmende Vergesslichkeit, die einbrechende senile Geistesschwäche, die bewirkten dass ein Rechnerprogramm das, eh ich mich seiner annahm, ordnungsmäßig verlief, nun im Laufe meiner wiederholten Versuche es zu verbessern völlig und bis jetzt jedenfalls trotz meiner stundenlangen Bemühungen unwiederherstellbar versagt hat. Meine Ohnmacht in Anbetracht einer so einfachen technischen Aufgabe bedrückt mich dann als sinnbildlich für die Hinfälligkeit all meiner Bemühungen, der beruflichen Anstrengungen, der Dichtungen, der Romane, der Begriffsgebäude die ich entworfen habe. Nichts ist anerkannt, nichts ist verkäuflich, nichts bringt Ruhm und Ehre, und alles ist umsonst! Wie ich erwähnte, waren Klemens und ich letzte Woche sechs Tage lang, vom 3. Juni bis zum 10. Juni 2018, in Konnarock. Es war ein wunderbares Erlebnis. Der Lorbeerbusch vor der Küchentür, den Du und ich so lieben, stand in voller Blüte; ich hab ihn inniglich von Dir gegrüßt. Den Rasen hatte Jeane aufs erbärmlichste vernachlässigt. Das Gras war kniehoch gewachsen, aber dem neuen Rasenmäher den ich vor zwei Jahren angeschafft hatte gelang es der unmittelbaren Umgebung des Hauses einen schicklichen Anblick zu besorgen. Schon seit Jahren, jedes Mal in Konnarock, suche ich nach einem besonderen Buch das meine Eltern in hohen Ehren hielten, Kultur und Ethik, von Albert Schweitzer. Meinte genau zu wissen wo ich es abgestellt hatte; mit einem Mal dann war es nicht mehr zu finden. Meine Vermutung, dass Margrit es liederlicherweise, mir zum Trotz und um sich bei ihnen noch beliebter zu machen, an Ludwigs verschenkt hat, hab ich nie ausgesprochen. Hab Margrit gegenüber weder den Verlust noch meine skurrile Vermutung je erwähnt. Dies Mal aber sagte ich's Klemens, und der, großzügig wie er nun einmal ist, befragte sein Smartphone, ermittelte dass Kultur und Ethik noch erhältlich sei, und bestellte mir ein neues Exemplar. Das habe ich nun neben mir auf dem Tisch liegen. Fühle mich, es versteht sich von selbst, verpflichtet darin zu lesen, und meine schon manches aus diesem Werk von verzweifeltem Optimismus gelernt zu haben. Es ist ein Evangelium das Schweitzer predigt, gerichtet jedoch nicht auf der Menschen Seligkeit im Jenseits, sondern auf ihr irdisches Gedeichen dass sie sich durch ihre Feindseligkeiten und Kriege verscherzen. Dies tun sie, weil eine lässige verantwortungslose Philosophie es unterlassen hat sie eines Besseren zu belehren. Und eben diese Fahrlässigkeit ist es welche zu berichtigen Schweitzer entschlossen ist. Weil noch etwa 300 Seiten mich von dem Abschluss des Buches trennen vermag ich Dir Endgültiges darüber in diesem Briefe jedenfalls nicht mitzuteilen. Einen flüchtigen Blick in die letzten Paar Seiten hat mich der von Krieg und Unheil erlösenden Botschaft belehrt. Weil der Wille zum Leben, l'élan vital, des Lebens Urkraft ist, wird eine quasi religiöse Ehrfurcht vor dem Leben alles Lebendigen, der Menschheit den Weg ins paradiesische Dasein weisen. Mein Vater jedoch, der wie ALbert Schweitzer ein Mediziner war, wenngleich kein Theologe, Organist und Philosoph wie jener, war von der Schweitzerischen Heilsbotschaft nicht überzeugt, denn als Arzt betrachtete er es als seine Pflicht seine Patienten vor Viren, Bakterien, Pilzen, Spulwürmern, Bandwürmern, Flöhen, Läusen und Zecken zu schützen indem er seine Patienten belehrte, wie an das Ungeziefer toeten moege. In Beziehung zu deren Leben, jedenfalls, war keine Ehrfurcht angemessen. In Schweitzers Philosophie erstreckt sich die Pflicht der Ehrfurcht ausdrücklich in die Welt nicht-menschlicherb Tiere. Denn dass selbst die Beschränkung der Ehrfurtspflicht auf den Menschen jedenfalls für den aufgeklärtesten Priester der Zauberflöte zum Problem wird, ergibt sich aus seiner Arie: In diesen heil'gen Mauern, Wo Mensch den Menschen liebt, Kann kein Verräter lauern, Weil man dem Feind vergibt. Wen solche Lehren nicht erfreun, Verdienet nicht ein Mensch zu sein. Vermutlich ist dem Leben dessen der das Menschsein nicht verdient, auch die Ehrfurcht vorenthalten. Jedoch, wie gesagt, vielleicht wird sich mir mit dem gewissenhaften Lesen der dazwischen liegenden dreihundert Seiten, ein tieferes Verständnis ergeben.