Am Freitag, den 15. Juni 2018 14 Uhr Mein liebes gutes geduldiges Kind, Fast ist es eine Beleidigung Dich um Entschuldigung für einen zweiten Brief am gleichen Tage zu bitten, die du Dein ganzes Leben verwandt hast mit mir und meinen Schrulligeiten Geduld zu üben. Also nicht Entschuldigung, sondern Dank, vielen tiefen glücklichen Dank dass Du für mich da bist, dass Du für mich gesorgt hast, und dass Du für mich sorgst. Noch heute besinne mich ich lebhaft wie ich mit meinen Eltern im prächtigen Wohnzimmer saß und meine Mutter mich bat eine Schallplatte aus der H-moll Messe noch einmal auf den Plattenspieler zu legen. Sie bat um das Sanctus, um den Satz aus der Messe der ihr am liebsten war. Die einschlägige Schallplatte aber beginnt mit Confiteor unum baptisma, was mir in jenem Augenblick belanglos erschien; eine Melodie welche aber dann, zauberhaft, in et expecto resurrectionem mortuorum mündet, mit den aufschnellenden Streichern und Trompeten, als wäre es in diesem Augenblick die Musik mit ihren Instrumenten und Musikern die auferstünde. Ich erzähle es Dir weil Du und Dein Leben mir zeigt, was es heißt aus dem Grabe, vom Tode aufzuerstehen, und beweist dass eine solche Auferstehung möglich, dass sie wirklich ist. Du besinnst Dich wie dringend notwendig es mir ist, niederzuschreiben was ich jeweils denke. Oder täusche ich mich und ist es eine nur eingebildete Notwendigkeit die mich treibt. Nachdem ich die 48 Seiten in Kultur und Ethik gelesen hatte, fielen mir einige der verschiedenen anderen Bücher ein die ich mir als junger Mensch zugelegt hatte und von denen ich erwartete - jetzt scheinbar irrtümlicher Weise - das Philosophieren zu lernen. Sie stehen unten im Regal (Bört) auf der Schulstraßenseite des Anbaus. Der erste Band den ich erfasste trug schlicht und einfach den Titel Philosophie. Karl Jaspers aus Heidelberg hat ihn verfasst, in etwa achthundert nun vergilbten brüchigen klein und eng gedruckten Seiten welche zu lesen ich zuweilen eine doppelte Lesebrille, also 6 Diopter stark, bedurfte, manchmal sogar das Vergrößerungsglas das wir einst für Dr. Nauen besorgt hatten - Du besinnst Dich - womit ich trotz allem, Schwierigkeiten beim Lesen hatte. Ehrlich gesagt, den einzelnen Inhalt den ich las, hab ich vergessen. Aber was ich beim Lesen verstand und was ich dachte, dessen besinne ich mich, und darüber möchte ich Dir schreiben. Worte, sagte ich mir, dies alles sind nur Worte, wenngleich, schoene klare vieldeutige Worte, Worte von Sachen die weder ich noch irgend ein anderer Mensch je gesehen, gehört, gefühlt, oder erlebt hat. Ich bemerke dies keineswegs in abschätzigem Sinn; es handelt sich um die reine geistige Tätigkeit des Denkens und des Sprechens, eine Übung die ich sehr wertvoll, sehr erbaulich finde. Vor etwas zwei Jahren, beim Schreiben der Sonetten fiel mir auf wie das Gedicht die eigentliche gültige sprachliche Mitteilung ist, denn das Gedicht wird eher gesprochen als gelesen, es wird gehört und wird als Klang, als Ton, als Melodie in des Empfängers Geist aufgenommen. Wird somit ein Teil seiner Seele wie nichts anderes sonst. So entwicklte sich für mich ein Verständnis für die - oder sollte ich schreiben - von der sogennnaten philosophischen Literatur. Denn die Worte die ich lese und höre haben eine nur dünne, lockere, unbestimmte - tenuous ist das Wort fuer welches mir das deutsche fehlt - Beziehung zu meinem Erleben. Begriff, Wille, Vorstellung, Gedanke, Anschauung, oder gar Weltanschauung, was alles möchten diese Worte mir bezeichnen. Wie vermag ich Dir mitzuteilen was ich mit ihnen meine, besonders wenn ich selbst es noch nicht weiß, weil es sich erst im Verlauf des Denkens mir aus meinem "Unterbewusstsein" - was ist das eigentlich? - ergeben muss. Wie erwähnt, ich meine es keineswegs abschätzig, wenn ich vorschlage, dass sich der Sinn des philosophischem Denkens erst mit seinem Verlauf entwickelt, meinem Erlebnis gemäß vergleichbar mit dem "Sinn" der 48 Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers, mit dem ich anfange ihn zu begreifen erst wenn ich sie höre und mehr noch erst wenn ich versuche sie selbst zu spielen. Der philosophische Text, wie die Noten der reinen Musik werden zwingend erst wenn ich sie schöpferisch wiederhole. Dann aber ergibt sich ihr Sinn als etwas sich aus meinem Inneren Entwicklendes, statt als etwas das auf mich übertragen, und sozusagen meinem Geist aufgepfropft wird. 18:45 Uhr Diese Überlegungen bewährten sich bei einem dritten Buch, das ich vom Regal (Bort) nahm. Heinrich Rickert, Professor erst in Freiburg, dann in Heidelberg hat es geschrieben. Es heißt Die Grenzen der Naturwissenschaftlichen Begriffbildung und hat den Zweck die sogenannten Geisteswissenschaften, vornehmlich die Geschichte und Geschichtswissenschaften gegen den Ansturm der Naturwissenschaften einzudämmen. Ich finde dies ein interessantes und wichtiges Thema, vermag aber Rickerts Problemstellung nicht beizupflichten. Vorerst möchte ich betonen, dass ich soeben angefangen habe dies Buch zu lesen, und dass ich kein Versprechen ablegen möchte es ganz, oder auch nur zur Hälfte durchzulesen. Wie weit und wie tief ich mich mit Rickerts Buch einlasse hängt von der Frage ab, wie einträglich diese Beschäftigung sich für mein eigenes Denken ergibt. Vorerst die vielleicht entscheidende Erwägung dass Rickert scheinbar die wissenschaftliche Arbeit nicht als Betätigung einzelner unterschiedlicher Wissenschaftler betrachtet, sondern als gesellschaftliche Unternehmen daran sich der einzelne Wissenschaftler wie ein Soldat an einem Feldzug beteiligt. Das ist für mich jedenfalls eine Betrachtung von erheblicher Bedeutung, denn ich selber tauge nicht zum Soldatentum. Mein Wissen von der Vergangenheit, also die Geschichtswissenschaft die ich betreibe ist persönlich und einzeln: bezieht sich auf eigene Erinnerung und auf die Deutung der Geschichte eben als das, als Geschichte, als Literatur. Ich denke die Wissensbegrenzung des Einzelnen sollte von der Wissenschaftsbegrenzunng der Gesellschaft unterschieden werden. Das mir persönliche Geschichtswissen besteht darin dass ich mich besinne. Dass mein Gedächtnis fähig ist die Landschaften die ich gesehem habe mir sozusagen vor Augen zu führen so dass ich sie unverändert, oder verändert, wie immer der Fall sein mag, wiedererkenne. Nicht weniger einschlägig ist die Bedeutung des Wortes, der Sprache von der ich behaupte dass ihr Sinn ein bleibender ist, so dass wenn ich heute von Weltanschauung oder von Natur spreche, ich mich auf dieselben Begriffe beziehe wie vor drei oder fünf Jahren. Das mir persönliche Naturwissen besteht darin, dass ich mich besinne. Dass mein Gedächtnis fähig ist die Landschaften die ich gesehem habe mir sozusagen vor Augen zu führen so dass ich sie unverändert, oder verändert, wie immer der Fall sein mag, wiedererkenne. Nicht weniger einschlägig ist die Bedeutung des Wortes, der Sprache von der ich behaupte dass ihr Sinn ein bleibender ist, so dass wenn ich heute von Natur oder von Weltanschauung spreche, ich mich auf dieselben Begriffe beziehe wie vor drei oder fünf Jahren. Aus den beiden vorherigen Absätzen geht hervor, dass es mir vorläufig jedenfalls unmöglich erscheint zwischen Geschichtswissen und Naturwissen zu unterscheiden, insofern jedenfalls als das Wissen stets in der Gegenwart stattfindet, indessen das Gewusste stets in der Vergangenheit liegt. Ein möglicher Unterschied ist die Wiederholung. Dass die Sonne gestern Morgen aufging, ist unbestreitbar eine historische Tatsache; dass die Sonne aber jeden Morgen aufgeht ist eine wissenschaftliche Tatsache weil sie vorausbestimmbar ist. Meine Beobachtung der regelmäßigen Kreisläufe vom Mond, von der Erde und von den anderen Planeten ist das Beiwohnen an einem Versuch der Natur dessen Ergebnis nicht weniger naturwissenschaftlich ist weil es mit großer Sicherheit im voraus bestimmt zu werden vermag. Mein geschichtliches Wissen ist stets von unwiederbringlichem Geschehen das unverbrüchlich in der Vergangenheit liegt; dessen ich aber dennoch in der Gegenwart, und nur in der Gegenwart, mittels der verhältnismäßigen Verlässlichkeit der Sprache gewahr werde und gewahr bleibe. Wohlbemerkt hat auch Naturwissen unentrinnbare geschichtliche Kompenenten. So zum Beispiel weisen in der Geologie die scheinbar unveränderlichen Steingefüge wie auch in der Biologie, gegenwärtige Merkzeichen der darwinschen Abstammungslehre, auf eine anderweitig unzugängliche Vergangenheit. In dieser Hinsicht sind beide, Geologie und Biologie als historische, also als Geisteswissenschaften zu betrachten. Bedenkt man aber, wie Rickert es scheinbar tut, die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften als gesellschaftliche Gefüge, werden die Verhältnisse um manches verwickelter. Denn nun bieten sich beide Wissenschftsgruppen als geschichtliche Erscheinungen die in der Gegenwart etwas anderes sind als sie in der Vergangenheit waren und als sie in der Zukunft sein werden. Da mit fortschreitender Forschung unvorhersehbare neue Wissensgebiete erschlossen werden, ist es unmöglich die Zahl oder Beschaffenheit einschlägiger Wissenschaften vorauszubestimmen, und demgemäß unmöglich die Grenzen ihrer Begriffsbildung. Liebes Kind, ich kann mir vorstellen wie meine langatmigen Ausführungen Dich gelangweilt haben, so dass Du beim Lesen meines Briefes eingeschlafen bist. Ruhe wohl, und träume von mir.