Liebes Kind, heute Morgen bin ich unsicher ob ich Dir einen englischen Brief, mit der Begrüßung "Dear Margaret" schreiben soll, oder ob ich, konservativ wie ich nun einmal bin es bei der alten, liebevoll bewährten Einführung lassen soll. Ich bin pünktlich - aber was heißt in diesem Zusammenhange, pünktlich? - erwacht, hab nach dem dringend notwendigen Urinlassen mir ordnungsgemäß die Hände gewaschen eh ich mir die Kontaktlinse aufs rechte Auge legte. Ich hab mir das Abwechseln dieser Linsen angewöhnt. Vorgestern Abend war's die linke, und heute Abend wird's wieder die linke Linse sein die ich entferne. So wird abwechselnd erst das eine und dann das andere Auge der Strapaze 36 Stunden langer Abdeckung und der Erholung 12 stündiger Abwesenheit ausgesetzt. Über mich selber urteile ich heute Morgen abfällig, dass ich doch schließlich ein lästiger Geselle bin der bei jeder geistigen Begegnung recht zu haben verlangt, wohl auch am Ende in der Begegnung mit Gott, indessen doch Kierkegaard darauf aufmerksam gemacht hat, wie erbaulich es ist, Gott gegenüber im Unrecht zu sein. Ach, liebes Kind, Dir und Deiner Liebe gegenüber bin ich im Unrecht, bin ich jede Stunde jedes Tages wo wir einander lieben im Unrecht, denn meine eigene Liebe die ich so systematisch überschätze ist im Vergleich mit der Liebe die Du mir hast angedeihen lassen, nicht der Rede wert. So ist es einmal, und ich verbringe die mir noch übrigen Tage mit Dankbarkeit dafür, dass Du mich liebst. Ich bilde mir ein, dass ich die mir noch bleibenden Tage, - und ich hoffe sehr dass es nicht allzu viele sind, - mit schriftlicher, gedanklicher Arbeit, weil ich der körperlichen nicht mehr fähig bin, verbringe, aber heute Morgen liegt mir an nichts als Dich in der Erinnerung aufzusuchen, Dich an mich zu drücken, dich zu herzen und zu küssen - wie einst und immer. um 5 Uhr Es wird Spätnachmittag, an diesem Sonntag der mit Müdigkeit vergangen ist ohne dass ich betrübt oder unzufrieden geworden wäre. Unsere unauslöschliche Liebe bewahrt unser Glück, und lässt auch mich nicht traurig werden. - Oder betrüge ich mich mit Faselworten? Dass meine Welt meiner Vorstellung entspricht ist mir unverkennbar. Du aber bist eine unabdingbare, unentbehrliche Säule meiner Vorstellung, ohne Dich bin ich unmöglich. Ich werde nie allein sein, weil ich ohne Dich über keine Existenz verfüge. Zusätzlich der philosophischen Schriften von Albert Schweitzer, Karl Jaspers und Heinrich Rickert die ich in den vergangenen Tagen überblätterte, hab ich Nicolai Hartmanns Grundlage der Metaphysik der Erkenntnis, die nun so viele Jahre in meinen Bücherregalen schmachtet, angeschaut; mit der Frage was ich selber in den verflossenen Jahren gelernt habe, und ob ich mein Wissen, mein Verstehen an den umfangreichen Erzeugnissen Hartmanns zu messen wage. Ich frage mich was es sein möchte das ich übersehen, dass ich missverstanden hätte, oder das zu begreifen ich ganz einfach zu dumm oder zu faul war. Die Überlegungen leiten mich, wie bei Schweitzer Jaspers und Rickert, zu dem Beschluss, keineswegs abschätzig, dass die formelle Ausführung des Denkens, die Philosophie also, unvermeidlich zu einem verwickelten dynamischen Wortgeflecht wird, oder zu einem solchen ausartet. Dieses Wortgefüge ist wie jedes andere Wortgeflecht ein Gedicht welches der jeweiligen Verfassung des Denkenden entspricht und welches in nur beschränktem Maße mitteilbar ist. Der gemeinsame Nenner bei der Kenntnisnahme eines Gedichts ist das Erleben des einzelnen Hörers oder Lesers, ein Erleben offensichtlich unterschiedlich von Mensch zu Mensch und von Zeit zu Zeit. Deshalb vermag es nur theoretisch, nicht aber tatsächlich gemeinsam zu sein. Ein solches individuelles Erleben ergibt sich nicht nur aus der jeweiligen Verfassung eines Gemüts sondern in triftigster Weise, auch aus der Sprache, aus den Worten in denen es seinen Ausdruck findet, und von denen es abhängig ist. Demgemäß ist es schlechthin unmöglich Kant, Heidegger, Hartmann oder Husserl, zum Beispiel, getreu zu übersetzen. Ein Versuch dieses zu tun würde unvermeidlich zu einem neuen fremden Verständnis führen, zu einer anderen "Philosophie." Weil alles auf den Sinn, den Ton, den Beiklang, auf das Bedeutungsspektrun des Wortes ankommt, ist kein Wort übertragbar in eine andere Sprache. Somit habe ich für mein eigenes Denken den Raum geschaffen den es benötigt und der ihm gebührt, ohne Anspruch auf auch nur beschränkte Allgemeingültigkeit zu erheben. Wie ich gesät, so habe ich geerntet. Hab nur für mich die Gedankensamen ausgestreut, und nur für mich, allein, hab ich geerntet. Ich beklage mich nicht. Im Lichte von Nathaniels Lebenslauf, dessen Dirigieren sich bewusst auf ein Äußeres richtet, erkenne ich wie und warum aus mir nichts geworden ist. Die Verfasser der Bücher die ich jetzt, im Rückblick überblättere, ihnen allen ging es um Leser, um Ruhm, um Absatz ihrer Bücher. Ich will sie nicht tadeln, ich beneide sie nicht; bin vielleicht dummmer Weise mit dem was ich geworden bin - und nicht geworden bin - zufrieden. Meine jetzt zu verstehen dass der Katheder wo der Professor des Wissens seine "Vorlesungen" erteilt, ihm als Bühne dient von welcher er seine Klugheit, sein Verständnis, seine Intelligenz erglänzen und bewundern lässt. Der Katheder ist der Hügel von welchem die geistige Himmelfahrt anhebt. Dass ich mich nicht schäme, abgesehen von einer sehr kurzen Spanne früh in meinem Leben, einen solche Erhöhung nie angestrebt zu haben, beurteile ich als die Vollendung der Absage welche Äsops Fuchs den übermäßig sauren Trauben zollte. Das ist mein Leben und mein Schicksal. Dass Du mich trotzdem liebst, das ist mein großes Glück.