am 19. Juni 2018 Mein liebes gutes Kind! Fast der ganze Tag ist vergangen, eh ich auch nur den Anfang mache Dir zu schreiben. Ich erinnere die ersten Worte des ersten Briefes den Du mir schriebst: 32 St. Marks Place June 25, 1949 Dear John, It is so hot. I do not mind it very much, but to the people in the street and in all the apartments around me do. Cross hot noises are coming in through the window. I have been sitting here the better part of two days, scribbling and then typing a little with a glass of iced tea jingling gaily on the shakey table. Your letter arrived on a bad day and it helped. Ob dieser Brief wohl auch an einem "schlechten Tage" bei Dir eintrift, wage ich nicht zu vermuten. Hier im Zimmer, auf der School Street Seite der zweiten Anbau-etage ist es auch heiß. Ich hab die Kühlanlage angestellt, die aber scheinbar nicht funktioniert, und einen Ventilator; und finde es dennoch zu heiß. Ich besinne mich, heute Morgen um neun Uhr aufgewacht zu sein. Erst gegen Mittag befand ich mich zum Frühstück in der Küche. Wie ich die Zwischenzeit verbrachte, weiß ich nicht mehr. Nathaniel kam von draußen und setzte sich zu mir. Er bekundete sein Entsetzen über die Brutalität der Regierung, die begonnen hat grundsätzlich die Kinder der Flüchtlinge aus Mexiko von ihren Eltern zu trennen und in Käfige einzusperren. Ich bemerkte dass diese Behandlung dem Willen jedenfalls 42 Prozent der Bevölkerung entspräche, und zitierte meine Mutter: Wenn das mal hier geschieht, wirds noch viel schlimmer. Gestern spät Abends, es war schon halb Elf, entschied ich mich auf Anregung der ich mich jetzt nicht mehr besinne, im Internet - Youtube heißt die einschlägige Einrichtung, mir eine Aufführung von Fidelio anzuschauen und anzuhören. Ich hab vor zwei Jahren, nachdem Du fortgegangen warst, um meinen Gefühlen für Dich Ausdruck zu geben, ein Sonett für Dich aufgeschrieben wo Du als Leonore erscheinst und ich Florestans Arie zitiere: "Und spür' ich nicht linde, sanft säuselnde Luft, und ist nicht mein Grab mir erhellet? Ich seh, wie ein Engel im rosigen Duft sich tröstend zur Seite, zur Seite mir stellet," Dies Zitat ist nicht ganz so abwegig wie es scheinen möchte, denn ich ahnte damals, und heute bin ich überzeugt, dass du gekommen warst um mich aus einem seelischen Kerker zu retten, in dem ich in Gefahr war zu verschmachten. Wenngleich kein Pizarro war mich zu ermorden drohte, so ahnte ich die Gefahr eines innerlichen Sterbens, hättest nicht Du Dich meiner erbarmt. Du magst Dich erinnern, dass meine Mutter in ihrer Umnachtung in den Monaten eh sie starb, verschiedentlich mir gegenüber in Beziehung auf meine kindliche Treue zu meinen Eltern, die Worte Florestans erwähnte: "Süßer Trost in meinem Herzen, meine Pflicht hab ich getan," wobei ich stets im Stillen monierte, dass es nicht Pflicht war aus der ich gehandelt hatte, sondern Liebe, die ich abtrünnig von Kant, wie ich nun einmal bin, um vieles wertvolles schätze als die Pflicht. Fraglich, ob vielleicht die Fidelio Dichtung auch in einer anderen Hinsicht mein Leben betreffen möchte, ob sie vielleicht meine Hartnäckigkeit in meinem Michael Kohlhaas Prozessieren it den Inselbehörden als "Pflichterfüllung" entschuldigt. Zwar hat das Gericht am Ende sein eigenes Urteil widerrufen, hat sich geweigert den Klempnerbehörden die Sirn zu bieten, so hab doch ich, ungleich Florestan, keinen Schaden erlitten. Aus einer nur kleinen Verlagerung der Perspektive möchte die acht Jahre lange Verzögerung mir zum Vorteil gewirkt haben; denn es waren Jahre die ich zusammen mit Dir verbrachte, statt das Haus auf Nantucket fertig zu stellen, Jahre die mir jetzt als ein unermessliches Geschenk erscheinen. Florestan war angeblich von Pizarro eingesperrt, weil Florestan beflissen war, Pizarros Verbrechen zu verkündigen. Was ich an meinen Prozessen am bemerkenswertesten finde, ist nicht dass sie Verlogenheiten der Zeugen, der Inselbehörden, der Staatsanwaltschaft und der Richter aufdecken, sondern dass diese eidesstattlichen Verlogenheiten statt als Verbrechen, als Tagesordnung gelten. Dieser Beweis scheint mir, jedenfalls aus königsberger Perspektive eine Leistung von hohem Wert. Am demütigsten für mich ist dass sogar die eigene Familie diesen Wert nicht anerkannte, und mit den Inselbehörden, mit den falschen Zeugen, mit den verlogenen Richtern gegen mich Stellung nimmt. Du, mein liebes Kind, das weiß ich sehr wohl, hast und hättest niemals Stellung gegen mich genommen. Mein liebes gutes Kind, ich habe mehr Glück im Leben gehabt als mir gebührt. Selbstverständlich, mein großes, mein größtes Glück bist Du! Ein wesentlich kleineres Glück ist dass ich nie Professor geworden bin, wie ich ersehnte, erhoffte und erträumte. Ich gebe wie immer zu (außer in Bezug auf Dich) dass ich möglicherweise von sauren Trauben schwafele, aber in Bezug auf die Gebiete der Literatur und der Philosophie meine ich zu erkennen, dass die Schulen ihre Ämter erfüllt haben und aus der Liebe zur Sprache den (sauren) Wein der Wortklauberei, aus der Liebe zum Denken den bitteren Saft einer leeren Scholastik gekeltert haben. Diese Vorgänge sind gesellschaftlich bedingt. Die Wortklauberei der Literaturhistoriker und die Scholastik auch der modernsten Philosophen ergibt sich aus der Konkurrenz, aus dem Wettbewerb, aus der Notwenigkeit sich und sein Fühlen und Denken den Urteilen der Konkurrenten zu unterbreiten. Das inwendige, subjektive Verstehen lässt sich weder mitteiken, noch messen, noch beurteilen; und somit geht in dem Schulbetrieb ausgrechnet das Wertvolleste, und tatsächlich das einzig Wertvolle verloren. Diese Einsichten infolge eines neuen Überblättern und Überlesen der Schriften von Jaspers, Rickert und Nicolai Hartmann.