am 19. Juni 2018 Mein liebes gutes Kind, Gestern Abend wurde es für die vielen Gedanken zu spät. Vielleicht waltet in meinem Gemüt ein zu großes Durcheinander, und vielleicht tue ich Dir mit dem Versuch in meinen Briefen an Dich meine Gedanken zu sichten und zu richten ein Unrecht. Du hast Dir in den vielen Jahren unserer Liebe so viel von mir gefallen lassen, dass ich unfähig geworden bin, die Grenzen des Ungehörigen festzustellen. Ich schrieb Dir von der Scholastik, von meiner Erfahrung dass ich die zeitgenössische sogenannte Philosophie lediglich als Scholastik zu begreifen vermag, und indem ich dies schreibe überfällt mich der Gedanke das die Behauptung einer Scholastik in sich selbst schon Scholastik ist, und beweist dass es unmöglich ist dem Bann der Scholastik zu entkommen. Das will ich aber dennoch versuchen. Am Anfang ein Hinweis auf den natürlichen, unscholastischen Gebrauch der Sprache wenn sie uns dient einer Sache die wir hören, sehen, fühlen, riechen oder schmecken einen eindeutigen Namen zu verleihen. Dieser Name nun bezieht seinen Sinn nicht aus sich selbst sondern aus der Wahrnehmung und aus der wahrgenommenen Sache die er bezeichnet. Es ist eine außerordentliche, bemerkenswerte Eigenschaft der Sprache, dass sie es vermag ihren eigenen Erzeugnissen, Worten, Sätzen, Absätzem, Kapiteln- einen Sinn beizufügen der aus keiner gemeinsam wahrgenommenen Sache gerleiyen laesst, sondern den Vorgängen des Denkens entspringt und entspricht. Ich meine Begriffe wie Vernunft, Verstand, Anschauung, Wissen, Wahrheit und unzählige Andere mehr. Solche Begriffe, welche sich nicht unmittelbar aus Wahrnehmung ergeben, haben anfangs einen für jeden Denkenden eigenen Begriff, welcher nur innerhalb der Schule wo man endlos disputiert, durch die Disputation, und nur durch sie, eine gemeinsame Bedeutung bekommt. Solches Denken heißen wir scholastisch, oder Schuldenken, weil es dem Einzelnen, außerhalb des Schola unzugänglich ist. Aus vorgehender Darstellung ergibt sich die Frage ob nicht im Grunde alles Denken der Gesellschaft, der Schule bedarf, und ob vermeintliches von der Gesellschaft unabhängiges und sich nur auf den einzelnen beziehendes Denken mehr ist als eine grandiose Selbsttäuschung des Selbstdenkenden. Eine Antwort ergibt sich nur aus dem Verlauf der Tätigkeit, nämlich aus dem Denken selbst. 15:33 Die objektive Wissensgrundlage ließe sich als die Gesamtheit alles je Gesprochene in allen Sprachen vorstellen. An diesem Reichtum möchte sich der Einzelne je nach seinen Fähigkeiten beteiligen, der Universalgelehrte mehr als der Analphabet, und doch der Gelehrteste nur an einem sehr geringen Teil, wenn schon wegen der Unzugänglichkeit der sich beständig verwandelnden Sprachen. Der potentialle Wissensschatz wäre zu gegebenem Zeitpunkt der gleiche. Tatsächliche Wissensumfang und Wissenstiefe hingen jedoch von jeweils besonderen und unvoraussagbaren Zufälligkeiten ab, so dass kein Denker die Wissensgesamtheit zu begreifen in der Lage ist, geschweige dass er fähig wäre sie mitzuteilen. Meinem Denkerleben gemäß liegen der Brauchbarkeit einer Vorstellung eines objektiven universalen Wissens unüberbrückbare Schwierigkeiten im Wege, weswegen für mich, für mein Denken und für mein Erleben das Verständnis der geistigen Wirklichkeit und des persönliches Wissens, mein momentanes, augenblicklich gegenwärtiges Bewusstsein sich als Quelle ergiebt. Alles was ich erkennne, alles was ich verstehe, berührt mein Gemüt durch den Trichter meines Bewusstseins. All mein Wissen erscheint in meinem Bewusstsein und wird mir als Bewusstsein verständlich. Man erwäge die Lehren Descartes: Cogito ergo sum. Mein Bewusstsein bestätigt mein Sein. Ich hingegen behaupte, mein Bewusstsein ist das Behältnis in dem mir mein Wissen erscheint. Man erinnere, dass Descartes die Verlässlichkeit der (objektiven) Außenwelt der Güte eines nicht anderweitig georteten Gottes anvertraute. Insofern dieser Gott mit der Inwendigkeit gleichgesetzt wird, sind mit der Existenz des Einzelnen auch die Gültigkeit und Wirklichkeit der ihm objektiven Welt verbürgt. Die Kluft zwischen Ich und Welt wäre überbrückt. Sofort ergibt sich die Frage: Wenn nicht durch scholastische Ausführungen, wie sonst mitteile ich meinen Mitmenschen mein Begreifen, mein Erfassen der (äußeren) Welt? Einleitend sei bemerkt, dass diese Mitteilung sich zwar auch mit meinem Handeln ergibt, aber wesentlich durch die Sprache geschieht und nur durch die Sprache zugänglich ist. Die schlüssige Antwort: Die Sprache ist Mitteiling des Außersprachlichen (nur) insofern die Sprache Dichtung ist. Soviel wusste schon Platon; und schon Aristoteles hatte es vergessen. Um auf mein Inneres sowohl als auch auf mein Äußeres hinzuweisen bediene ich mich der Sprache als Dichtung. In diesem Sinne ist alle Dichtung mehr oder minder "Wissenslehre" anderweitig auch Philosophie genannt. Und alles was sich als Philosophie ausgibt, einbeschlossen der Scholastik, und besonders dieser, ist verständlich nur als Gedicht. Wenn Sokrates sagte sein einziges Wissen sei, dass er nichts wüsste, so deute ich die Behauptung als einzigen Wissens das Nichtwissen, die Beteurung des inwendigen subjektiven Bewusstseins der Belanglosigkeit der äußerlichen objektiven sprachlichen Wissensfeststellungen. Schließlich weiss ich von dem Traum mittels gedanklicher Zergliederung und Zusammenstellung zu mehr gültigem sachlichen Wissen zu gelangen, eben dieses, es ist ein Traum. Aber insofern meine Überlegungen mich vom Glauben an einen entgültigen Sinn des Wissens befreien, isr dieser Traum eine erlösende Erleichterung, insofern ich um die verhältnismäßige Belanglosigkeit des objektiven Wissens gelernt habe und nun von seinen Ansprüchen nicht weiter erdrosselt zu werden befürchten muss. Das eigentliche Wissen ist Können. Beim Lernen werde ich verwandelt. Meine Fähigkeiten werden gesteigert. Wie ich mich etwa in einer vormals fremden Landschaft zurechtfinde, weil sich mir die Landschaftsbilder eingeprägt haben und somit ein Teil meines Gemüts geworden sind, so dass ich nun auch von hier den Weg nach Hause erkenne. Vergleichbar steht es mit allem anderen Wissen. Wenn ich nun jetzt mein Gemüt untersuche, um festzustellen was es in diesem Augenblick enthält, so ist das Ergebnis: garnichts. Mein Gedankenzimmer ist leer, mein Sinn ist tabula rasa die angeregt sein will. Und Anregung lässt nicht lange auf sich warten, ein einziges Wort, wie etwa "Faust" wird eine Gedächtniskette vom Stapel lassen, denn ich habe dieses große Gedicht so oft gelesen dass ich es "verinnerlicht" habe, und dass ich Teile davon "auswendig" hersagen kann. Und vergleichbar ist's mit den Zahlenreihen die sich, wenn angeschaltet, praktisch ins Unendliche ergießen. Zwar nicht unendlich aber im Gedächnis bewahrt sind die Alphabete, das deutsche, das englische, das griechische, mühelos von Anfang an vorwärts, aber beschwerlich von Ende rückwärts aufgesagt. Wie die Zahlen, wie die Buchstaben, wie die Namen der Bibelbücher reihen sich die Gedanken, die Vorstellungen, "im Gedächtnis" an einander, rufen einander hervor, bestätigen und widerlegen einander, Vorgänge durchweg bewusst, aber keineswegs willentlich oder absichtlich. Weil ich aber viele Ortschaften besucht habe, viele Straßen gegangen und gefahren bin, viele Bücher angeschaut, und noch beeindruckender, gelesen habe, ist der Vorrat möglicher Wissenssätze, Tatsachen die ich zu zitieren und zu erklären vermag sehr umfangreich: will sagen, ich bin ein gebildeter und gelehrter Mensch, eine überhebliche Anmaßung welche jedoch der Hinfälligkeit des Wissens womit ich mich ziere keinen Abbruch zu tun vermag. Das ist, so lautet meine Erkenntnislehre - oder sollte ich schreiben, Erkenntnisleere - . Besteht dabei eine triftige Notwendigkeit für eine Metaphysik oder Phänomenologie der Erkenntnis? Mich dünkt die Scholastik, z.B. der Erkenntnistheorien zum Beispiel von Rickert und Hartmann, beruht auf der Tatsache dass die(se) Philosophen die Hinfälligkeit des Wissens und mehr noch, der Wissenschaften, verkennen, und sich verpflichtet fühlen das Nichtsein des Wissens durch ausgeklügelte Redewendungen zu verbergen (zu verhehlen). Wenn ich nun aber, statt die unmittelbare Auslage des eigenen Wissen zu betrachten, ich mich frage wohin und wie weit das mir gegenwärtig verfügbare Wissen sich in diesem Augenblick ausdehnt, so wird das Nichts des unmittelbar gegenwärtigen Wissens durch einer Phantasmagorie von Wissensvorstellungen verdrängt. Ich befinde mich wie in einer Loge des Gedächtnistheaters auf dessen Bühne sich der Vorhang hebt um die verschiedensten Wissensszenen eine nach der anderen in Erscheinung treten zu lassen, deren so viele sind, dass ich kaum weiß wo ich den Anfang machen sollte sie aufzuzählen, diese Bruchstücke einer Biographie des Geistes. Am Anfang liegt Deutschland, die deutsche Sprache, die deutsche Landschaft, die deutschen Städte, die deutsche Dichtung, und nicht zuletzt, die deutsche Musik, aber auch die deutschen Nazis, die deutsche SS und SA, die deutsche Wehrmacht, - der Krieg, die Verfolgung, die Auswanderung... das viele Hinzugelernte, die Botschaften des Studiums, das Erlernen und die Ausübung des ärztlichen Berufs. All dies Wissen besteht nur in Andeutungen, der Ausarbeitung und Vervollständigung bedürftig, eh es verlässlich wiedergegeben werden könnte, um von Anwendung garnicht zu sprechen. Und ich, der ich aus meiner Theaterloge hinab auf die Wissensbühne blickte, werde gewahr wie verschwommen das Bild, wie kurzsichtig ich bin, wie viele Ergänzungen, Berichtigungen und Bestätigungen mein vermeintliches Wissen bedarf, das sich wohl bemerkt dadurch auszeichnet dass es kein allgemeines, sondern dass es mein eigenstes Wissen ist. Du gutes liebes Kind, was alles Du Dir nicht von mir gefallen lässt, - auch dies leere Gerede. Ich hoffe es dauert nicht mehr lange bis wir wieder zusammen sind, vorerst aber habe ich mir fest vorgenommen geduldig zu sein. Schlaf gut und freue Dich auf unser Zusammensein.