Lieber Herr Nielsen, Gestern Nachmittag begrüßte ich Ihren Sohn in der angrenzenden Einfahrt von 166 School Street, und über die armselig niedrige struppige Ligusterhecke rief er mir zu, dass Ihre Frau die Knieoperation der vorigen Woche glücklich überstanden hat. Nun will auch ich nicht zögern ihr und Ihnen meine herzlichen Wünsche für beständige gute Besserung mitzuteilen. Von mir, hingegen ist ohne jede Klage zu berichten, dass es abwärts geht, wenngleich mit zugegeben unbestimmter, und tatsächlich unbestimmbarer Verzögerungszeit. Das Gehen ist mir nunmehr nur noch an zwei Stöcken möglich, und die Schritte die ich zustande bringe sind kurz und schleppend. Hingefallen zwar bin ich noch nicht. Vor allem besorgt mich die Behinderung an der Aufrechterhaltung der drei beträchtlichen Häuser, in Belmont, in Virginia und auf Nantucket die sich im Verlauf des langen Lebens - es sind nur sechs Tage bis zu meinem achtundachtzigsten Geburtstag - um mich angesammelt haben - weil ich zu viel Glück im Leben gehabt habe, und weil ich besonders jetzt im hohen Alter wo das Leben unwiederholbar ist, unwillens bin mich dieser Gedenkstätte meines Erlebens zu entäußern. Obgleich die körperliche Verschlechterung unverkennbar ist, darf ich mir über einen möglichen geistigen Rückgang keine Feststellung anmaßen. Ein solches Urteil, wenn überhaupt von Belang, fiele in Ihren Bereich. Ich bin mir lebhaft der Bedürfnisse gegenwärtig, welche meinen Vater in seinen Sterbensjahren bewog seine Schreibtische, seine Kartotheken, seine Aktenschränke, seine Kleiderschränke, seine Arbeitszimmer aufzuräumen, mit dem Ergebnis dass er seinen Erben eine Wohnung in peinlichster Ordnung hinterließ. Mir werden dergleichen Bemühungen, wenn nur wegen meines unerwünschten hündischen Urenkels, der das Parterre dieses Hauses in einen Wildtiergarten verwandelt hat, allenfalls äußerlich kaum gelingen. Ansonst bin ich besonders in den jüngst verstrichenen Wochen bedacht gewesen mir für mein langes erfolgreiches und doch verfehltes Leben, Erklärung, Rechtfertigung, Entschuldigung und/oder Ausrede bereit zu legen. Schon als junger Mensch wurde mir klar, dass es unmöglich ist "Philosoph" zu werden. Entweder man hat die Philosophie im Leibe (oder wäre es im Kopfe?) dann ist's unnötig zu werden was man ist; oder aber man hat sie nicht, dann gibt's kein Mittel sich zu verwandeln. Die Universität hat schon manchen Studenten überzeugt das Studium dort, ob als Student oder als Professor, sei die höchste, wenn nicht gar die einzige Verwirklichung der Existenz. Es ist unbestimmbar inwiefern meine Abwendung von diesem Glauben, der vermeintlichen Säure unerreichbarer Trauben anzurechnen sei, oder mein Erwachen aus einem wirklichkeitsfremden Traum. Weil es mir unmöglich schien eine Professur in irgendeiner der Geisteswissenschaften zu bekommen, wurde ich Arzt. Die Leidenschaft aber "die Welt und mich selber zu begreifen" - oder war es nur Schwafelsucht und Genugtuung das eigene Denken, die eigenen Worte, wie versteckte Bonbons immer wieder neu zu entdecken und neu zu genießen, diese Süchtigkeit ließ nicht nach; blähte sich vorerst mit dem Wahn einer Verpflichtung der Überlieferung die sie vermeintlich erzeugt hatte beizusteuern; und beruhigte sich dann, als meine Bemühungen allgemein unbeachtet blieben, mit einem neuen Dünkel, auf dem sie bis heute verharrt. Seit ich ein weiteres Mal auf den alten Begriff der Stoiker, Oikeiosis (οἰκείωσις) aufmerksam geworden bin, überlege ich, ob vielleicht meine hartnäckige Besessenheit auf das Spiel mit Worten und Gedanken, Ausdruck sein möchte des Bedürfnisses mich gegen die Bedrohung fremder Gedanken zu schützen und mir eine eigene Gedankenwelt aufzubauen in der ich Zuhause bin. Wenn mein Vater sich geistig oder ästhetisch bedroht fühlte, pflegte er sich mit der Feststellung zu wehren: "Das hat mit mir nichts zu tun." Meine Abwehr ist gründlicher, insofern ich bewusst den Versuch mache, das Fremde, Bedrohende in Besitz zu nehmen und es zu einem harmlosen Teil der Welt in der ich beheimatet bin zu verwandeln. Die Gedankenwelt in der ich mich wiedererkenne, hat zwei Dimensionen. Da ist einerseits die öffentliche sachliche objektive, vom Journalismus ausdrücklich und beabsichtigt gepflegte Gedankenwelt, welche von den formellen Informationen die schriftlich in Gebrauchsanweisungen, in Handbüchern, Lehrbüchern, Lexika, Enzyklopädien, und mündlich in Vorträgen und Vorlesungen zu einem riesigen alles umfassenden Corpus Scientiae vervollständigt wird. Da ist andererseits die private, subjektive Innenwelt des Bewusstseins, die, wenn ich mich zuerst auf sie besinne, erstaunlicher Weise fast leer erscheint, und die sich dann vorübergehend mit Gedankennetzen der Erinnerung bestückt; selbstverständlich anfällig für den überwältigenden Reichtum des sachlichen Wissens der das Bewusstsein, aber wohlbemerkt, nur vorübergehend besetzt. Die objektive Gedankenwelt, oder sollte es heißen, die Welt der objektiven Gedanken, entsteht durch die Bindung von Sinneswahrnehmungen an Symbole, ins Besondere an die Sprache. Mathematische Symbolik spielt eine untergeordnete doch unentbehrliche Rolle. Die Triftigkeit und Zuverlässigkeit der Symbolik ergibt sich aus Vergleich und Übereinstimmung unzähliger symbolisch befestigter Wahrnehmungen. Außer dem Denken über die wahrnehmbare und wahrgenommene Welt, gibt es ein zweites zusätzliches Denken über das Denken selbst. Es ist dies reine Denken, das sich auf nichts als den eigene Gedanken bezieht, wovon Goethe gesagt hat: »Wie hast du's denn so weit gebracht? Sie sagen, du habest es gut vollbracht!« – Mein Kind! ich hab es klug gemacht: Ich habe nie über das Denken gedacht. Zahme Xenien 7 Während zum Beispiel ein Haus, ein Baum, ein Straße zuverlässig benannt und beschrieben werden, weil ihr Anblick vielen Schauenden offen liegt, steht's anders um Worte wie Metaphysik, Phänomenologie, Vernunft, Verstand, Anschauung, Worte die einem jedem nur in Inneren zugänglich sind, die keinen Bezug auf einen gemeinsamen wahrnehmbaren Gegenstand haben, und die ihre Bedeutung aus unsichtbaren Beziehungen zu anderen Worten schöpfen. Das Denken über das Denken wird sinnvoll, wenn überhaupt, nur in der Akademie, nur in der Schule wo aus dem Zusammenfließen von beständigem Repetieren, von beständigem Wiederholen, von beständigem Austausch, von kaum verständlichen und manchmal unverständlichen Wortgebilden, sich eine Pseudowirklichkeit, eine virtuelle Wirklichkeit ergiebt. Als eine solche Erscheinung geistigen Zusammenwirkens, im Gegensatz zu geistiger Einsamkeit, erkläre ich mir nicht nur die kaum, wenn überhaupt, verständliche Scholastik des Mittelalters, sondern zugleich eine bisher unbenannte Scholastik der Moderne. Als wir vor zwei Wochen in Virginia waren, suchte ich auf den Regalen meiner Eltern einen besonderen Band, von dem ich erinnerte das er 1939 aus der Havarie unserer Wohnungseinrichtung mit nur geringem Wasserschaden gerettet worden war, ein Buch das mein Vater sehr schätzte, und welchem er die deutsche philosophische Tradition entnahm. Das Buch war Albert Schweitzers philosophisches Opus: "Kultur und Ethik." Dieses Buch begehrte ich besonders in den jüngst vergangenen Jahren, weil mein Denken schließlich eigenen Inhalt und eigene Gestalt entwickelt hatte, und ich meine Beschlüsse mit der Überlieferung aus der sie stammten, zu vergleichen wünschte. Jedes Mal wenn wir nach Konnarock kamen, suchte ich in Konnarock nach "Kultur und Ethik", wenn wir dann zurück nach Belmont kamen, sucht ich danach in Belmont. Aber stets vergebens. Schließlich befestigte sich meine Vermutung, dass meine vor achteinhalb Jahren verstorbene Schwester die ihr ganzes Leben im Schatten meiner Eigenarten verbrachte, "Kultur und Ethik" verschenkt hatte, und nämlich an meiner Eltern deutsch-sprachigen Pfarrer in Konnarock, einen gewissen Rudolf Ludwig der wie mein Vater ein Bewunderer Schweitzers war. Meiner Schwester habe ich meinen Verlust nie beklagt, aber als ich vor zwei Wochen bei unserem Besuch in Konnarock meinem Sohn Klemens von meiner jahrelangen Suche berichtete, zog er, großzügig wie er nun einmal ist, sein Smartphone aus der Tasche, ermittelte die Verfügbarkeit des Buches, um es umgehend für mich zu bestellen. Zwei Tage nach dem wir zurück waren wurde es vom Postboten geliefert. Den Anfang und das Ende hab ich nun schon gelesen. Aus den Anfangsseiten von "Kultur und Ethik" geht hervor dass es das Werk eines nüchternen Arztes ist, der das Leben Jesu erforscht und unzulänglich begeisternd gefunden hat, und der nun mit evangelischem Eifer seinen Lesern "Kultur" als Ersatzreligion für einen unwiederbringlichen und kaum noch vorstellbaren Glaubensschatz verschreibt. Eine neue europäische Kultur soll von einer volkstümlichen Philosophie gestiftet werden um dann in den neu-aufgeklärten europäischen Völkern zu erblühen und zu fruchten. Die Schuld für die Unkultur des Nationalismus welche den Ersten Weltkrieg ermöglichte, schreibt Schweitzer den berufsmäßigen Philosophen zu, welche in akademischen Eifer verstrickt, es unterließen volkstümliche Philosophie den Massen zugänglich zu machen. Die Last der Ethik welche Schweitzer seinen Jüngern auferlegt ist aber nicht die vom Neuen Testament geforderte Liebe, noch ist es der Kantsche Gehorsam einem kategorischen Imperatif. Schweitzers Ethik fußt auf dem von einer philosophierenden Biologie entdeckten universellen Willen zum Leben und fordert vor diesem allgemein gewollten Leben, eine unbedingte Ehrfurcht, die besagte Ehrfurcht vor dem Leben. Damit ist Ehrfurcht nicht nur vor dem Menschenleben gemeint, sondern gleichfalls vor dem Leben auch des niedrigsten Tieres. An dieser Stelle würgte meinenVater seine Vernunft, denn als Arzt meinte er sich verpflichtet nicht nur die Haken- und Spulwürmer an denen seine Patienten erkrankten, ehrfurchtslos zu töten, sondern auch die Pilze, Bakterien, und Viren welche den modernen Forschertheorien gemäß gleichfalls ein tierisches Dasein führen. Soweit war ich in meinem Schweitzerstudium gekommen, als es mir die vielen anderen philosophischen Bände ins Gedächtnis riefen die ich mir als junger Arzt zugelegt hatte, weil ich damals leidenschaftlich begehrte den Gedankenreichtum den ich in ihnen vermutete mir anzueignen. Das waren neben Kant, Hegel, Fichte, Schelling, auch Nietzsche, Schopenhauer und Kierkegaard, dazu Wilhelm Diltheys Gesammelte Werke, wie auch die von Diltheys Schwiegersohn verfasste vielbändige Geschichte der Autobiographie, Schriften von Georg Simmel, Max Weber, Heinrich Rickert, Nicolai Hartmann, Karl Jaspers, und Otto Friedrich Bollnow. Ich zähle sie auf als Merkmale meines Versagens; denn viele der Bände die mehr als fünfzig Jahre lang in meinen Regalen Staub sammeln hab ich überhaupt nicht aufgeschlagen, kaum einen einzigen hab ich je vollständig von Anfang zu Ende gelesen, und fast alles was ich einst zu begreifen meinte, hab ich heute vergessen. Heute ist es zu spät. Der Druck ist so winzig, die Seiten sind so vergilbt, dass ich sie selbst mit dem Vergrößerungsglas nur mit viel Mühe zu lesen vermag. Um diese Bücher heute zugänglich zu machen, muss ich sie elektronisch ablichten und auf dem Bildschirm des Rechners in starker Vergrößerung abbilden. Damit habe ich nun begonnen, ohne eine realistische Aussicht zu hegen, weit damit zu kommen. Einige Inhaltsverzeichnisse, Einleitungen und Vorworte die ich gelesen habe geben mir zu denken. In dem Vorwort zu Nicolai Hartmann Grundzüge einer Metaphsyik der Erkenntnis, zum Beispiel, finde ich nichts das auf frisches lebendiges Erkennen deutet. Ich lese dort Worte die sich nirgends auf ein unmittelbares Erleben sondern stets nur auf einander beziehen, die nur durch diese gegenseitigen Beziehungen sinnvoll werden,cund deren Verständnis es voraussetzt und verlangt dass man sich Monate, wenn nicht gar Jahre lang mit diesen Worten beschäftigt, sie bespricht und diskutiert, wie nur in einer Schule möglich ist bis zuletzt wie durch geheimnisvolle geistige Selbstentzündung die Verständnisflamme hervorbricht. Ich gebe zu, dass ein solches Aufflammen einer "reinen Vernunft" sehr wertvoll sein möchte, wenn nur darum weil es so selten ist; andererseits scheint mir eine Seltenheit von so großer Magie, fast unmöglich von den neuen Kleider des Kaisers zu unterscheiden. Ich erinnere Hermann Hesses "Glasperlenspiel" als eine geniale Beschreibung einer scholastischen Gesellschaft. Lieber Herr Nielsen, ich habe viel Grund mich für einen so extravagant ausladenden Brief zu entschuldigen. Vielleicht ist es am Ende zu spät zu versichern dass sie ihn nicht zu lesen brauchen. Ihn zu beantworten dürfen Sie sich nicht verpflichtet fühlen. Ihnen und besonders Ihrer Frau meine herzlichen Wünsche für gute Genesung und einen ersprießlichen Sommer. Jochen Meyer