am 22. Juni 2018 Mein liebes gutes Kind, Vergib mir, bitte, dass ich Dir gestern nicht schrieb, denn der ganze Tag, oder sollte ich schreiben, die wachen Stunden des gestrigen Tages waren mit Aufsetzen eines Briefes an Niels Holger Nielsen vergangen, - du besinnst Dich, denn bei seinem ersten Besuch im März 2014 warst Du zugegen. Niels Holger, - oder Herr Nielsen, wie ich ihn anrede, ist der Vater unseres Nachbarn Alexander Nielsen, der vor Jahren 166 School St von Tony Fedanos kaufte. Fedanos wiederum hatte das Nachbarhaus von seinen langjährigen Besitzern Sellins. die dort wohnten als wir 1962 hier einzogen, erstanden, und deren Tochter Holly vorübergehend Klemenses Spielgefährtin war. Aus Gründen über die ich mir nicht völlig im Klaren bin, hatte ich das Bedürfnis zu einer kurzen Zusammenstellung der Entwicklung meiner Gedanken während der verstrichenen siebzig Jahre, eine Bemühung die verlangt an einem möglichen Leser gerichtet zu sein. Eine Abschrift meines Briefes an Herrn Nielsen ist auch an Dich, und besonders an Dich, abgegangen, weswegen es überflüssig ist mich zu wiederholen. Heute Morgen bin ich um viertel nach Acht, ganz ohne Weckuhr erwacht, aber dann hab ich den halben Tag im Stuhl sitzend geschlafen, erst hier im Schulstraßenzimmer in der zweiten Etage, dann, als ich hungrig geworden war, drunten am`Küchentisch; auch zwei Tassen Kaffee hielten mich nicht wach. In den letzten Jahren Deines Hierseins waren meine Gedanken und Gefühle fast ausschließlich auf Dich und auf Deine Pflege gerichtet. Ich weiß nicht was es bedeutet, ich weiß nicht ob ich es aussprechen darf: Die Jahre in denen es mir gegönnt war für Dich zu sorgen empfinde ich jetzt im Rückblick als die glücklichsten Jahre unserer glücklichen Ehe, wenn nur weil ich schließlich Gelegenheit hatte, meiner Liebe für Dich den tiefsten, höchsten, umfangreichsten Ausdruck zu geben; merkwürdig dass dies von keinem Menschen verstanden wird; merkwürdiger noch wie verärgert sie über unsere Liebe wurden, und über mich. Je älter ich werde, desto mehr beschäftige ich mich mit, - oder sollte es heißen, desto mehr beschäftigen mich - Betrachtungen über Leben und Tod; es bleibt ewig unbestimmt inwiefern sie als Weisheit und inwiefern als Schwafelei beurteilt werden sollten. Ich verstehe dass die Behinderung die ich beim Gehen spüre, von selbst nicht rückgängig wird und durch operativen Eingriff möglicherweise nur verschlimmert würde. Ich deute sie als Sterbensvorgang, dessen Richtung unverkennbar, wenngleich die Geschwindigkeit nicht vorausssehbar ist. Wie beschwerlich das Leben werden möchte, muss unbestimmt bleiben. Das Sterben ist manchmal sehr qualvoll. Hinwieder ist es aber wunderbar leicht. Ich sage mir, hofffentlich ohne mich zu belügen oder zu täuschen, dass ich Angst habe weder vor dem Sterben noch vor dem Leben. Ich habe mir vorgenommen geduldig zu sein, und ich glaube dass ich geduldig bin. Bald werden wir wieder zusammen sein.