From: Cristina Basili To: "ernstmeyer@earthlink.net" Subject: Boston Date: Sat, 23 Jun 2018 23:28:36 +0000 Lieber Jochen, Ich hoffe, es geht dir gut, wie immer! Ich meine wie immer hoffe ich und wi= e immer geht es dir auch bestimmt gut. Solange wir hoffen, geht es uns gut,= nicht wahr? Ich hoffe, auch, dass du nicht denkst ich h=E4tte dich vergessen. Durch die= vielen Reisen im letzten Monat, die im n=E4chsten Monat nicht weniger sein= werden, bin ich etwas =FCberm=FCdet. Aber ich will mich, wie auch du, nich= t beklagen! Anfang Juni bin ich von Los Angeles nach Wien geflogen, =FCber = England. Und nach einpaar Tagen, ich habe gerade noch den Geburtstag meiner= Mutter mit ihr zusammen gefeiert (sie hat nat=FCrlich fantastisch gekocht,= ich durfte ihr auch ausnahmsweise helfen...), musste ich nach Deutschland = f=FCr Proben, Vorspiele und Konzerte in Freiburg am Breisgau, K=F6ln (diese= Stadt besteht wie ich mit Verwunderung feststellte aus unbemerkenswerten G= eb=E4uden um einen gigantischen Dom herum gebaut) und in Berlin. Und nun, w= o ich wieder zur=FCck in meinem Zuhause in Kritzendorf bin, muss ich bald a= uch schon wieder weg. Mein Flug nach Boston ist schon gebucht, und ich komm= e am 28. am Abend an. Das Yellow Barn Festival in Putney, beginnt am 1. Jul= i, ich bin nicht sicher, ob ich schon fr=FCher dorthin kann, ansonsten bin = ich zwei Tage lang in Boston und k=F6nnte dich und Nathaniel besuchen, wenn= du in Belmont bist. Morgen dirigiert Ben Zander das Boston Philharmonic Youth Orchestra im Musi= kverein Wien, fast h=E4tte ich es =FCbersehen, denn er hat mir nichts davon= gesagt, obwohl ich mit ihm in Kontakt bin, weil ich ihm mein Schumann Cell= okonzert so gern einmal vorspielen w=FCrde. Wahrscheinlich hat Ben vergesse= n, dass ich und meine Eltern in Wien wohnen, sein Ged=E4chtnis ist ja weit = nicht so stark wie deines. Man wei=DF bei solchen Karriere- Menschen nie, w= ie viel Wert man denen wirklich ist. Karriere ist so wie die Wirtschaft. Si= e besteht aus Inflation und Deflation. Manchmal ist man den Leuten unheimli= ch viel wert, andermal sinkt der Preis und man wei=DF nicht genau warum. Au= ch hier ist die Deflation meist durch Depression begleitet, wie wir in der = Schule gelernt haben und auf Wikipedia nachlesen k=F6nnen. Immer mehr merke ich, dass man zwischen privatem Leben und beruflichem Lebe= n st=E4rker trennen sollte. Sogar was die Musik anbelangt. Die Gesellschaft= gibt mir zu verstehen, dass, um erfolgreich zu sein man ein Businessmensch= sein sollte und Gef=FChle so wenig wie m=F6glich in den Weg kommen lassen = sollte. Es ist sehr schwierig einen Mittelweg zu finden. Es scheint, als ob= die Welt nur dann mein Musizieren verstehen wird, wenn =FCberhaupt, wenn e= s dem Perfekten am nahesten ist. Doch dazu brauche ich zumindest mein ganze= s Leben. Wie ich nebenbei dieser Arbeit, dem Gelangen zu einer eigenen, f= =FCr mich akzeptablen Interpretation der gro=DFen Cellowerke, auch noch Gel= d verdienen, eine Familie gr=FCnden, und als erfolgreich gelten soll, ist m= ir ein R=E4tsel. Aber Lebensr=E4tsel, im Gegensatz zu denen, die in der Zei= tung zum Zeitvertreib stehen, l=F6sen sich oft von selbst, deshalb versuche= ich weniger zu denken und mehr zu tun. Ganz sicher bin ich mir nicht, ob d= ies die richtige Entscheidung ist, denn ich denke sehr gerne nach, aber sie= scheint die funktionierende zu sein. Ich bin mir auch bewusst geworden, da= ss Worte zu endlich sind. Wir fassen Gedanken immer in Worte und begrenzen = sie dadurch. T=F6ne sind etwas weniger endlich als Worte, so scheint mir. I= ch kann mich durch Worte schlecht ausdr=FCcken, vielleicht liegt das daran,= dass ich literarisch, in Vokabular und Grammatik, nicht gebildet genug bin= . Aber noch schwieriger f=E4llt mir das Reden. Reden macht fast gar keinen = Sinn f=FCr mich. Es ist immer ein Vergn=FCgen, deine Briefe zu lesen, denn = deine Worte sind etwas weniger endlich als meine. Ich bevorzuge f=E4llt mir= auch das Dichten in Worten schwer. In Yellow Barn weden wir ein modernes W= erk "Perceptions" von Sofia Gubaidulina auff=FChren. Sie ist eine russische= , sehr fromme K=FCnstlerin. In diesem Werk, das aus 13 S=E4tzen besteht, si= ngt die Sopranistin in Sprechstimme am Anfang des 10. Satzes "Ich": Im Grunde sind wir alle Dichter Dichtung, die Krone unseres Wortschatzes, nach der jeder auf seine Weise zu= greifen vermag. Dichten mit Worten, Farben, T=F6nen, aus Liebe. Christus: Dichtung der Dichtung, aber wir leben in einer Welt, die nicht vo= n einem f=FCr alle gedichtet werden kann Dichter, Inspiration f=FCr den Einzelnen, das eigene Leben selbst zu dichte= n. Dichtungen in der Anonymit=E4t, Namenlosigkeit nach au=DFen Selbstbestimmung nach innen. Am Schluss dieses Satzes, macht die Komponistin auch darauf aufmerksam im G= esang, dass im Wort Dichtung auch das Wort Dich und das Wort Ich enthalten = sind. Was f=FCr ein sch=F6ner Zufall! Und am Schluss des Werkes singt sie: = Zwischen Leid und Mitleid steht ein Kreuz. Ich hoffe sehr, dass in Yellow Barn, dieses Werk in deutscher Originalsprac= he aufgef=FChrt werden wird und sie nicht auf die Idee kommen, den Text zu = =FCbersetzen, das w=FCrde einiges zerst=F6ren. Nun, lieber Jochen, da siehst du, mit was f=FCr einen -entschuldige den Aus= druck- Kram ich mich zurzeit besch=E4ftige. (Nein, keine Angst, wir spielen= neben dem zeitgen=F6ssischen Repertoire auch noch Mozart und Mendelssohn Q= uartette!) Herzlichst, Deine Cristina --_000_DB6PR0201MB21503B667D205A3441C2F2569E740DB6PR0201MB2150_ Content-Type: text/html; charset="iso-8859-1" Content-Transfer-Encoding: quoted-printable


Lieber Jochen,


Ich hoffe, es geht dir gut, wie i= mmer! Ich meine wie immer hoffe ich und wie immer geht es dir auch bestimmt=  gut. Solange wir hoffen, geht es uns gut, nicht wahr?

Ich hoffe, auch, dass du nicht de= nkst ich h=E4tte dich vergessen. Durch die vielen Reisen im letzten Monat, = die im n=E4chsten Monat nicht weniger sein werden, bin ich etwas =FCberm=FC= det. Aber ich will mich, wie auch du, nicht beklagen! Anfang Juni bin ich von Los Angeles nach Wien geflogen= , =FCber England. Und nach einpaar Tagen, ich habe gerade noch den Geburtst= ag meiner Mutter mit ihr zusammen gefeiert (sie hat nat=FCrlich fantastisch=  gekocht, ich durfte ihr auch ausnahmsweise helfen...), musste ich nach Deutschland f=FCr Proben, Vorspiele und Konzerte in Freibu= rg am Breisgau, K=F6ln (diese Stadt besteht wie ich mit Verwunderung festst= ellte aus unbemerkenswerten Geb=E4uden um einen gigantischen = ;Dom herum gebaut) und in Berlin. Und nun, wo ich wieder zur=FCck in meinem Zuhause in Kritzendorf bin, muss ich bald auch schon wi= eder weg. Mein Flug nach Boston ist schon gebucht, und ich komme am 28. am = Abend an. Das Yellow Barn Festival in Putney, beginnt am 1. Juli, ich = bin nicht sicher, ob ich schon fr=FCher dorthin kann, ansonsten bin ich zwei Tage lang in Boston und k=F6nnte&nb= sp;dich und Nathaniel besuchen, wenn du in Belmont bist. 

Morgen dirigiert Ben Zander das B= oston Philharmonic Youth Orchestra im Musikverein Wien, fast h=E4tte i= ch es =FCbersehen, denn er hat mir nichts davon gesagt, obwohl ich mit ihm = in Kontakt bin, weil ich ihm mein Schumann Cellokonzert so gern einmal vorspielen w=FCrde. Wahrscheinlich hat Ben ver= gessen, dass ich und meine Eltern in Wien wohnen, sein Ged=E4chtnis is= t ja weit nicht so stark wie deines. Man wei=DF bei solchen Karriere- = Menschen nie, wie viel Wert man denen wirklich ist. Karriere ist so wie die Wirtschaft. Sie besteht aus Inflation und Deflatio= n. Manchmal ist man den Leuten unheimlich viel wert, andermal sinkt der Pre= is und man wei=DF nicht genau warum. Auch hier ist die Deflation meist durc= h Depression begleitet, wie wir in der Schule gelernt haben und auf Wikipedia nachlesen k=F6nnen. 

Immer mehr merke ich, dass man zw= ischen privatem Leben und beruflichem Leben st=E4rker trennen sollte. Sogar= was die Musik anbelangt. Die Gesellschaft gibt mir zu verstehen, dass, um = erfolgreich zu sein man ein Businessmensch sein sollte und Gef=FChle so wenig wie m=F6glich in den Weg kommen lassen = sollte. Es ist sehr schwierig einen Mittelweg zu finden. Es scheint, als ob= die Welt nur dann mein Musizieren verstehen wird, wenn =FCberhaupt, wenn e= s dem Perfekten am nahesten ist. Doch dazu brauche ich zumindest mein ganzes Leben. Wie ich nebenbei dieser Arbe= it, dem Gelangen zu einer eigenen, f=FCr mich akzeptablen Interpretati= on der gro=DFen Cellowerke, auch noch Geld verdienen, eine Familie gr=FCnde= n, und als erfolgreich gelten soll, ist mir ein R=E4tsel. Aber Lebensr=E4tsel, im Gegensatz zu denen, die in der Zeitu= ng zum Zeitvertreib stehen, l=F6sen sich oft von selbst, deshalb versu= che ich weniger zu denken und mehr zu tun. Ganz sicher bin ich mir nicht, o= b dies die richtige Entscheidung ist, denn ich denke sehr gerne nach, aber sie scheint die funktionierende zu sein. I= ch bin mir auch bewusst geworden, dass Worte zu endlich sind. Wir= fassen Gedanken immer in Worte und begrenzen sie dadurch. T=F6ne sind= etwas weniger endlich als Worte, so scheint mir. Ich kann mich durch Worte schlecht ausdr=FCcken, vielleicht liegt das dara= n, dass ich literarisch, in Vokabular und Grammatik, nicht gebildet genug b= in. Aber noch schwieriger f=E4llt mir das Reden. Reden macht fast gar keine= n Sinn f=FCr mich. Es ist immer ein Vergn=FCgen, deine Briefe zu lesen, denn deine Worte sind etwas weniger endlich al= s meine. Ich bevorzuge f=E4llt mir auch das Dichten in Worten schwer. In Ye= llow Barn weden wir ein modernes Werk "Perceptions" von Sofia Gub= aidulina auff=FChren. Sie ist eine russische, sehr fromme K=FCnstlerin. In diesem Werk, das aus 13 S=E4tzen besteht, singt die = Sopranistin in Sprechstimme am Anfang des 10. Satzes "Ich":


Im Grunde sind wir alle Dichte= r

Dichtung, die Krone unseres Wo= rtschatzes, nach der jeder auf seine Weise zu greifen vermag. Dichten mit W= orten, Farben, T=F6nen, aus Liebe.

Christus: Dichtung der Dichtun= g, aber wir leben in einer Welt, die nicht von einem f=FCr alle gedichtet w= erden kann

Dichter, Inspiration f=FCr den= Einzelnen, das eigene Leben selbst zu dichten.

Dichtungen in der Anonymit=E4t= , Namenlosigkeit nach au=DFen

Selbstbestimmung nach innen.&n= bsp;


Am Schluss dieses Satzes, ma= cht die Komponistin auch darauf aufmerksam im Gesang, dass im Wort Dichtung= auch das Wort Dich und das Wort Ich enthalten sind. Was f=FCr ein sch=F6ne= r Zufall! Und am Schluss des Werkes singt sie: Zwischen Leid und Mitleid steht ein Kreuz.

Ich hoffe sehr, dass in Yellow Ba= rn, dieses Werk in deutscher Originalsprache aufgef=FChrt werden wird und s= ie nicht auf die Idee kommen, den Text zu =FCbersetzen, das w=FCrde einiges= zerst=F6ren.


Nun, lieber Jochen, da siehst du,= mit was f=FCr einen -entschuldige den Ausdruck- Kram ich mich zurzeit= besch=E4ftige. (Nein, keine Angst, wir spielen neben dem zeitgen=F6ssische= n Repertoire auch noch Mozart und Mendelssohn Quartette!) 


Herzlichst,

Deine Cristina







  


--_000_DB6PR0201MB21503B667D205A3441C2F2569E740DB6PR0201MB2150_--