Liebe Cristina, Es erscheint mir ein wenig - oder mehr als ein wenig - verrückt, dass indessen Du auf dem Zürcherflughafen auf den Aufstieg nach Boston wartest, ich hier spätmorgens wo ich gestern Abend auf Dich wartete, und wo ich heute Abend auf Dich warten werde, am Esszimmertisch sitze und einen Brief an Dich verfasse den Du a) vor Deiner Ankunft möglicherweise garnicht empfangen wirst, oder b) wenn Du ihn empfängst, als überflüssig und belästigend ad acta legen wirst. Du sollest es aber längst mitgekriegt haben, dass mein Schreiben ein zwanghaftes ist, und in seiner Notwendigkeit für mich vergleichbar mit Deinem Musizieren für Dich, wenngleich auch bei weitem nicht so erbaulich. Gestern Abend saß ich mit Kopfhörern an meinem Rechner auf dem eine Inszenierung von Händels Watermusic gespielt wurde, mit Orchester in Perücken und Fracks angetan, und mit Tänzern und Tänzerinen die auf der Bühne hin und her, auf und ab, einander entgegen und an einander vorbei flackerten - wie aufgeputze Vögel Strauß die sich von Australischen Wüsten ins 18. Jahrhundert verlaufen hatten, mit Anweisungen sich so zu betragen als wünschten sie dringend sich zu begatten, ohne zu wissen was sie sich unter diesem Begehren vorstellen sollten. Diese Ablenkung hatte ich mir erlaubt infolge meines neu erwachten Interesse an BWV 1007-1012, worüber wir korrespondierten. Ich hatte mir sämtliche Partituren vom Internet abgerufen, hatte indem ich versuchte den Partituren zu folgen, Mischa Maiski 1007, und Yoyo Ma 1008 spielen hören, hatte mir vorgestellt dass meine Hüften plötzlich gesund geworden wären, und fragte mich nun zu welchen Bewegungen meiner Arme und Beine, meines Nackens, meines Rückens und meiner gesundeten Hüften, mich neu-eingebildten Tänzer Maiski's und Ma's Aufführungen zu begeistern geeignet wären. Und habe keine Antwort gefunden. Warte also mit umso größerer Ungeduld auf Deinen Besuch! Frage mich ob ich Bachs Musik zu ernst nehme, ob es möglich ist sie zu ernst zu nehmen. Jetzt erscheinen mir Allemande, Courante, Sarabande, Menuett, Gigue, als Tänze die eine Herdenerotik darstellen, als Spiegelbild der Seelenerotik welche Bachs Religionskompositionen, die Messen, Passionen, Oratorien und Kantaten beherrscht. Oder wäre vielleicht diese Gegenüberstellung ein Maßstab meines oben erwähnten Wahnsinns? Ich befürchte ich bin an der Herden-Seelen Dialektik erkrankt; vielleicht ist sie ein unheilbares Gebrechen. Jetzt ist es der Gegensatz von Herdenerotik und Seelenerotik. Vormals bekümmerten mich die Widersprüche von Herdenethik und Seelenethik, von Herdenästhetik und Seelenästhetik. Du wirst mir sagen: Dieweil du bekümmert bist, bist du am Leben. Worauf ich Dir antworte: Solange ich lebe, bin ich bekümmert; was keineswegs besagt dass Kummer das Leben stiftet oder erhält. Doch es steht geschrieben, "Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen," Bis bald. Dein Jochen