Da kommt ein Geburtstagsbrief. Er strahlt der so warmer, freundlicher Sommersonne, dass ich nicht weiß wie ihn zu erwidern, ohne als Lebensglückspielverderber aufzutreten, und dies schon gleich mit dem Ärger welche die Klebrigkeit meines Umgangs mit den anderweitig kristallklaren Worten der geliebten deutschen Sprache auslösen möchte. Hab soeben die Etymologie des Ausdrucks "Nostalgia" erforscht, um zu ermessen ob ich Euch ein Klagelied über die Nostalgie nach dem einfachen, scheinbar unzweideutigen Begriff "Wahrheit" meiner nun so entfernten Kindheit anstimmen sollte. Meine Eltern verwalteten und bewachten das Wahre mit untrügbarer Selbstverständlichkeit, ins besondere meine verständige und alles verstehende Mutter die nicht nur die Wahrheit meiner Worte sondern die Wahrheit meiner Gedanken zu bestimmen vermochte. Damals muss ich als wahres Kind meiner Eltern erschienen sein, denn noch heute besinne ich mich wie meine Großmutter von mir dem Achtjährigen des Lügens besichtigt, verteidigend sich beklagte, es gebührte sich nicht "jedes Wort auf die Goldwaage zu legen." Und heute, heutzutage ist die Sicherheit und Selbstverständigkeit des Kindseins verflüchtigt und verflogen. Ich verbringe die mir noch bleibenden Tage meines Lebens in einem Dunst schopenhauerischer Vorstellungen, darunter die Wahrheit zu entdecken ich zumindesten des 800 Seiten fetten Buches "Wahrheit" von Karl Jaspers bedürfte, ein Band der wegen mangelnden Willens wie er bekanntlich zur Vorstellung gehört, seit sechzig Jahren ungelesen auf Bücherregalen Staub fängt. Inzwischen hat sich mein Verständnis verwandelt. Schon seit langem erscheint mir die Sprache nicht mehr als Schlüssel den Schrank der Wahrheit zu öffnen, sondern ehr als ein Schutzschirm der dient sie zu verbergen. Denn dass mir heute, mit 88 Jahren, die Wahrheit erträglich wäre ist so unvorstellbar wie dass es mir gelänge einen Sack Kartoffeln auf meine Schulter zu heben. Ich betrachte einerseits das Preisen, und andererseits das Beklagen meines Alltags wie die entgegengesetzten Ende eines Trapezstabes dessen der Seilkünstler sich bedient um sein Gleichgewicht zu bewahren, wohl bemerkt dass einerunser unfähig ist irgendwo zu bestehn als zwischen den beiden Enden, in der Mitte, wo er sich im Gleichwicht, will sagen, im Recht befindet. Ein Absturz in die Tiefen, in den Abyss des Unrechts wäre so schrecklich dass er undenkbar ist. Damit ist meine Situation deren Inhalt sich jeglicher Beschreibung sträubt, formell bezeichnet. Nichts bleibt übrig als Euch meine dankbaren Hochsommergrüße mitzuteilen. Euer Jochen