am 6. Juli 2018 Mein liebes gutes Kind, Seit meinem letzten Brief am Dich sind ganze zwei Wochen vergangen. Ich kann's kaum glauben! Die Erklärung aber: dass so viel geschehem ist, und alles in Deiner Gegenwart. Denn wir haben einander nie verlassen, und wir werden einander nie verlassen, selbst wenn wir es könnten. Ich denke an Dich jeden Tag, und bin mir zunehmend bewusst dass meine Welt meine Vorstellung ist. Du bist ein unverbrüchlicher Teil meiner Welt; und wenn, wie man sagt, Du gestorben bist, so starb an jenem Tage auch ein Teil von mir, und was fortlebt ist nur mein Schatten. Der Gedanke der in diesen Tagen mein Gemüt beherrscht, ist dass ich mich der Worte, der Sprache bediene um mir eine Vorstellungswelt zu schaffen wo ich gerecht bin, wo ich im Recht bin, wo ich tugendhaft gut und ehrlich erscheine. Die angebliche Erbaulichkeit vor Gott im Unrecht zu sein, für die Kierkegaard Reklame macht, überzeugt mich nicht, und das Beichten, das Sündenbekennen scheint mir leeres Schwafeln. Und so frage ich mich nun, und forsche in unserem Briefwechsel nach dem Unrecht das ich Dir getan habe: und finde nur eins, dass ich Dich zu heftig liebte mit einer Liebe der Du nicht zu widerstehen vermochtest. Das Übermaß an Liebe, so erscheint's mir jetzt, ist meine Ursünde, denn auch im Lieben, wie in allem anderen Verhalten gibt es eine goldene Mitte, oder sollte es geben. Dass die Liebe über kein oberes Maß verfüge, ist ein Missverständnis. Jenseits dieser Grenze wird Liebe zermürbend, schädlich, vielleicht sogar tödlich. Es ist viertel vor elf Uhr abends. War eben noch einmal nach unten in die Küche gegangen um etwas für den leeren Magen zu finden, und da saßen am Küchentisch Nathaniel und seine Sabine. Scheinbar hatten sie sich für jeden ein vorbereitetes Abendessen gekauft dass wohl nur des Aufwärmens im Mikrowellenherd bedurfte. Für mich hatten sie nichts besorgt, denn um mein Abendessen waren sie unbekümmert. Nicht einmal einen Sitzplatz am Tisch baten sie mir an. So verzehrte ich meine paar Esslöffel Yoghurt im Stehen, am Tresen rechts von der Abwäscche; mein Gute Nacht Wunsch wurde von beiden sehr höflich erwidert. Sie sind zufrieden, und ich bin es auch. Nichts liegt mir ferner als mich über die Getrenntheit unserer Existenzen zu beklagen. Im Gegenteil, ich bin ihnen für die Einsamkeit die sich daraus ergibt, dass sie keine Annäherungsversuche, keine Gesellschaft von mir verlangen, dankbar, denn diese mir sehr teure Einsamkeit ermöglicht es sehr nah bei Dir zu sein und Dich Tag und Nacht wenn gleich nicht körperlich, so dennoch seelisch zu umarmen. Nun Gute Nacht. Jetzt geh ich zu Bett. Sobald ich eingeschlafen bin sind wir zusammen. Ich hab gut geschlafen. Ohne Dich zu erwachen, stimmt mich traurig, bis ich mich daran erinnere, dass ich doch nicht ohne Dich bin, oder jedenfalls nicht mehr oder weniger ohne Dich als während der 72 Jahre meiner Liebe für Dich. Dann erinnere ich, dass während dieser mehr als lebenslangen Spanne durch die Dein Geist und Deine Seele mich begleiteten, weder Du noch ich dieselben geblieben sind. Die Zeit verwandelt uns, hat uns verwandelt, einen jeden von uns, vom Augenblick des Bewusstwerdens bis zu dem Augenblick der Bewusstlosigkeit. In diesem Sinne stirbt ein jeder von uns jeden Abend und wird an jedem Morgen neu geboren. Die Zeit aber bewirkte diese Verwandlung in mir durch Dich. Weil ich durch Dich geworden was ich heute bin, wäre es mir unmöglich Dich von mir zu trennen, selbst wenn ich es wollte; und wahrlich, ich will es nicht; denn ich will nicht einsam sein, und ich bin nicht einsam, denn ich bin Du und Du bist ich. Was weiteres wäre zu wünschen oder wollen? Wie hab ich mich nicht in diesen 72 Jahren, seit ich mich 1946, als ich Dich zum ersten Mal in Bethlehem vor den Toren der Packer Chapel sah und mich in Dich verliebte, verwandelt. Und Du hast Dich nicht weniger verwandelt als ich, vielleicht sogar ein wenig mehr, und diese Verwandlungen wie sie sich von Tag zu Tag wo nicht von Stunde zu Stunde vollzogen, bleiben das Großartigste an unserem Leben, an unserem Lieben und an unserem Sterben. Oder sollte ich geschrieben haben, an unserem Lieben worin unsere Leben und unsere Sterben, ich meine Dein Sterben und mein Sterben, in einander verschmelzen. Ich überlege das Erblühen und das Verwelken des Gemüts und frage mich inwiefern das verwelkende Gemüt fähig sein möchte das Verwelken oder gar das Verwelkte zu verstehen; frage mich ob vielleicht das Verwelken nur durch das Verwelkende verständlich wird, und weiß es nicht. Habe aber jetzt Hunger und will 'runter in die Küche, wo wir so oft, so lange, zusammen saßen, - Du besinnst Dich!? In dem Erinnern, in dem Denken an Dich und nur in dem Denken an Dich, erkenne ich mich und meinen Geist.