am 9. Juli 2018 Mein liebes gutes Kind, Wenn ich Dir erzähle dass ich, als ich heute Morgen erwachte, enttäuscht war noch immer nich bei Dir zu sein, stelle ich mir die Fragen:rede ich Unsinn, schwafele ich, versuche ich mich oder gar Dich zu täuschen, belüge ich uns beide? Muss denn alles im Leben - und im Sterben eindeutig sein? Oder genauer: ist nicht Leben Vieldeutigkeit, und ist es nicht der Tod der eindeutig ist? Oder wäre es vielleicht genau umgekehrt: der Tod ist vieldeutig und unverständlich, indessen das Leben eindeutig und selbstverständlich - darf ich schreiben selbstverständig ist, verständlich dem Lebenden, zugleich aber verständig insofern es sich selbst versteht. Gestern Nachmittag und gestern Abend hab ich die siebenundzwanzig Briefe überlesen die ich Dir, seit ich aufs Neue anfing mit Dir zu korrespondieren, geschrieben habe. Dies ist der achtundzwanzigste, Beitrag zu einem Aggregat von etwa 54 gedruckten Seiten, - wenn ich sie drucken ließe. Ich fand einiges das ich geschrieben habe, schal, unsinnig, durcheinander, manches aber, wie die usprüngliche alte Korrespondenz zwischen uns, so sinnvoll, dass ich mich von ihnen mit Zufriedenheit - um das Kirchenwort Erbaulichkeit zu vermeiden - an mein einstiges Denken, an meine einstigen Gefühle erinnern lasse, als Bestandteil der geistig-seelischen Welt in der ich gelebt habe und aus der - oder in die hinein ich sterben möchte. Vorm Zubettgehen hörte ich Kantate 11, Bericht über die Himmelfahrt, "Lobet Gott in seinen Reichen," eine wunderbare Zusammenstellung von einem Herdenchor der die Himmelfahrt unwiderruflich mit Pauken und Trompeten bestätigt, mit einem Bericht von Segen und Abschied, und einem Trauerlied der Seeleneinsamkeit, - dies alles, Du verstehst es von selbst, ohne dass ich darauf hinweise, ein Spiegelbild des Verhältnisses zwischen Dir und mir, denn für mich bist auch Du auferstanden von den Toten und bist, mich segnend "in Gottes Reichen" aufgefahren. Ich höre Dich mich fragen: Glaubst Du das wirklich? Ist nicht auch dies eine Deiner Dichtungen womit Du Dich tröstest? Meine Antwort ist Ja und Nein. Was ich Dir erzähle, was ich Dir schreibe, ist Dichtung und weil es Dichtung ist, ist es wirklich, denn Dichtung ist Geist, und was immer die Herdenwirklichkeit sein mag, Geist ist die einzige Wirklichkeit der Seele. Geist ist, war, und bleibt die Wirklichkeit unseres gemeinsamen Lebens. Genug der Predigt. Die Morgenandacht ist vorüber. Meine Frühstückstasse Kaffee hat mich ernüchtert. In den 27 Briefen an Dich, jetzt sind es 28. hab ich versucht Dir meine unverblümten Gedanken mitzuteilen, so wie sie mir durchs Gemüt zogen, ohne das Gehabe, ohne die Ziererei für die ich Dich in meinem allerersten Brief an Dich um Entschuldigung bat. Zumindest dies: schlicht und einfach zu sagen was mir durchs Gemüt zieht, habe ich in den 72 Jahren unserer Liebe gelernt.