am 9. Juli 2018, 20:00 Uhr Mein liebes gutes Kind, Vorhin war ich zu müde um meinen Brief fortzusetzen. Ich legte mich angekleidet aufs Bett, dachte an Dich, schlief ein bisschen, und bediente mich dieser Gelegenheit das Wesen und Wirken meines ruhenden Gemüts zu betrachten und zu überlegen. Dabei wurde mir klar dass es nicht nur beim Einschlafen und beim Erwachen Ruhestände des Gemüts gibt, sondern auch zu anderen Zeiten, Ruhestände wo kein Gedanke, kein Gefühl, keine Vorstellung ins Bewusstsein dringt. Dergleichen Ruhestände werden dann von unscheinbaren oder scheinbaren Reizen abgebrochen. Bedenken wir die Sprache. Ein einziges Wort das im Bewusstsein ertönt, gleich ob ich es inwendig oder auswendig höre, genügt unter Umständen eine Zeile, eine Strophe, oder ein ganzes Gedicht im Gedächtnis aufleben zu lassen, vorausgesetzt, - und dies ist das große Geheimnis, dass ich das Gedicht "gelernt" habe, will sagen, dass ich es "auswendig" kann, und wesentlicher noch, dass ich der Sprache in der es verfasst wurde mächtig bin. Dies ist ein einfaches Beispiel, welches als Vorlage, als Muster für ein weites Wissensspektrum dienen mag. Aus diesen Betrachtungen und Überlegungen ziehe ich den Schluss dass das Gemüt, - oder wenn Du anatomisch denken möchtest, das Gehirn des reifen Menschen eine Schatzkammer angelernten, erinnerten Könnens ist, wo Sprache, Rechenkunst und Musik nur den Anfang besagen, ein geistiges Können dass sich bis auf meine äußersten Kenntnisse, Fähigkeiten und Erinnerungen erstreckt. Ich weiß es nicht, es mag Borniertheit meinerseits besagen, dass ich diese Einsicht, diese Erkenntnis, dass das Gemüt - sagen wir ruhig das Gehirn des Menschen in einer noch unbestimmten Weise durch seine Umgebung umgeprägt, verwandelt wird, und dass diese Eigenschaft des Gemüts sich (den Reizen) der Umwelt anzupassen, die triftige, maßgebende Erklärung für das Wissen und somit Kern und Grundlage der Epistemologie darstellt. am 10. Juli 2018 um 10 Uhr 30 Mein liebes gutes Kind, in den Minuten - oder Stunden - der Nacht wo ich wachte, statt zu schlafen, belebten die Erinnerung an Deine liebliche Gestalt und an Deinen engelhaften Geist mein Denken, und ich ahnte zum ersten Mal die Quelle des Glaubens an die Auferstehung und Himmelfahrt des Gottes, nämlich die subjektive Unmöglichkeit dessen Nichtsein, die subjektive Unmöglichkeit den Tod des Gottes für wirklich, für endgültig zu halten. Vom Urteil oder auch nur vor einer Ansicht über die Bedeutung dieser geheimnisvollen Vorstellungen schrecke ich zurück; entdecke mich aber gebunden an die Behauptung (Kierkegaards) die Subjektivität sei die Wahrheit. So wahr es ist, dass die Subjektivität die Wahrheit ist, so wahr ist es auch, dass Auferstehung und Himmelfahrt einen Sinn haben von dem ich zugeben und behaupten muss, dass er subjektiv zwingend ist. Dass mein eigenes Erleben aber subjektiv ist, erfahre ich von Augenblick zu Augenblick, erfahre zugleich dass es mir unmöglich ist von Dir getrennt zu sein, unmöglich mir mein vergangenes gewesenes Leben ohne Dich vorzustellen; dass Du mir in jedem Augenblick gegenwärtig bist und gegenwärtig bleibst, weil Du ein Teil von mir geworden bist wie ich von Dir, weil unsere Geister ineinander untrennbar verschmolzen sind, - oder ist was ich schreibe Faselei? Und wenn es Faselei wäre, wäre dann vielleich die Faselei die einzige und endgültige Wirklichkeit? [Objektivierte Subjektivität ist Mythos. Subjektivierte Objektivität ist Dichtung.] Wirst Du im Kielwasser so phantastischer Vorstellungen meine weiteren Erwägungen betreffs Erkenntnis und Erkenntnistheorie überhaupt noch ernst nehmen? Ach - hast Du nicht längst, dadurch dass Du mich ungebührlich ernst genommen, Dein Leben verdorben! Meine Erkenntnistheorie behauptet als seine einfache, formelle Grundlage, das Postulat der Mitteilung zwischen einem Sender, nämlich der Welt die mich umgibt, und einem Empfänger, meinem Gemüt samt seinem materiellen Korrelat, dem Gehirn. Das Gemüt ist für die Eindrücke der Umwelt empfänglich, und wird im Verlauf des langen Lebens zu einem Speicher aufgenommener Bilder, oder genauer, aufgenommener Eindrücke welche die erlebte Welt in meinem Gemüt mehr oder weniger verlässlich als Erinnerungen verankern. Durch Erinnerung der Welt werde ich in ihr zuhause. Die Erinnerungen werden zu einem Können, das in den verschiedensten Fähigkeiten zum Ausdruck kommt. Das ist meine Erkenntnistheorie. Ich will nicht bestreiten, dass neben der anschaulischen intuitiven Unmittelbarkeit meiner Erinnerungen, meine Erinnerungen außerdem in symbolischen Formen, in Sprache und Mathematik, zum Ausdrick kommen. Auch bestreite ich nicht dass diese Symbolik mannigfaltigen bedeutsamen Erweiterungen und Verschachtelungen unterzogen ist. Die Ausarbeitung, Entwicklung und Darstellung dieser Verschschachtelungen bezeichnet man gewöhnlich als Epistemologie, ein Lehrfach das seine eigenen Wert und Bedeutung aufweist, ohne jedoch die grundlegende Gegebenheit meines Erkennens, als das Erinnern der Außenwelt, wie ich dieses Erinnern beschrieben habe, zu beeinträchtigen.