Mein liebes gutes Kind, Ein Grund, weswegen gestern ein Brief von mir ausfiel, war dass ich mich jedes Mal wenn ich an Dich dachte so sehr nach Dir sehnte, dass ich Deine liebevollen Briefe vom Januar, Februar und Dezember 1950 nachschlug, und mich Dir näher fühlte als durch die kleinen Aufsätze die Dir zu senden ich mir angewohnt habe, deren Wert lediglich darin besteht, dass Du mich trotz meines Faselns liebst. Immer und immer wieder muss ich mich an die Höhe meines Alters erinnern, 88 Jahre, wovon 76 Jahre durch Dich geheiligt sind. Immer und immer wieder muss ich mich mahnen, dass es sich gebührt die Tage, Wochen, Monate, Jahre die mir leider noch bleiben, nach bestem Vermögen zu vergeistigen in dem ich was ich fühle und denke niederschreibe, vornehmlich in Briefen an Dich in denen es mir erlaubt ist den Versuch zu machen, alles Sagbare auszusprechen. Ich meinte nun schließlich von Überlegungen betreffs Erkenntnistheorie mein Denken der Ethik, besonders im Abklang von Schweitzers Kultur und Ethik, zuwenden zu sollen. Da fiel mir auf als Coda zur Epistemologie, dass Können sich ausschließlich auf die Gegenwart bezieht, indessen Wissen als eine Schatzkammer, so zu sagen, als ein Museum zum ewigen Aufbewahren der Vergangenheit erscheint. Umso bedeutsamer möchte diese Unterscheidung werden, insofern als die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit so geheimnisvoll unbestimmt, und tatsächlich unbestimmbar ist. Vielleicht möchten statt Können und Wissen zu bestimmen, Gegenwart und Vergangenheit von Können und Wissen bestimmt werden; wie etwa mit der Behauptung: All mein Können fällt in die Gegenwart. All mein Wissen bezeichnet eine Vergangenheit. Diese Formulierung erinnert mich in welchem Maß mein Denken ein Spiel mit Worten ist, ein Spiegelbild abhängig von dem Sinn der Sprache. Zugleich aber bietet mein Coda zur Erkenntnistheorie eine großangelegte Brücke zur Ethik, wenn nur mit der altgriechischen Einsicht, dass kein Mensch wissentlich das Schlechte, Böse, Falsche tut. Welch ein erstaunlicher Gegensatz mit der mosäischen Lehre die Frucht des Erkenntnisbaumes wäre das Wissen um Gut und Böse, und die Menschen die vom Erkenntnisbaume äßen wären ob ihres Wissens dem Tode geweiht! In der Auffassung der Griechen ist der Mensch grundsätzlich gut und zum Leben bestimmt. In der Auffassung der Hebräer ist der Mensch grundsätzlich schlecht, dem Tode geweiht, und bedarf um zu Leben der Erlösung. Zugrunde in jedem Falle, liegt die Annahme, dass der Mensch sich zu einer Handlung entscheidet. Wie deute ich den Unterschied, einerseits dass er handelt weil er ein zu gegebener Handlung bestimmter Mensch ist, und andererseits dass er handelt gemäß eines freien Willens in einer bestimmten Weise zu handeln. In welch gedankliche Verworrenheit verleitet uns nicht die Sprache! Über meine eigene Gesinnung, über die Grenzen dessen was mir augenblicklich gegenwärtig sein möchte, über den Bereich worüber sich meine vergangenen, gegenwärtigen und oder zukünftigen "ethischen" Verpflichtungen, Obliegenheiten erstrecken möchsten, weiß ich in meinem augenblicklichen "gegenwärtigen" Gesinnungszustand schlicht garichts auszusagen, und vermag der Schlussfolgerung nicht zu entkommen, dass jegliches ethisches Postulat das ich mir selber oder einem anderen auferlegen möchte nichts weiteres wäre als freche, unverschämte Verlogenheit. Mit meinen Leidenschaften, denen Kant jegliche ethische Bedeuttung abspricht, mit Sehnsucht, Hoffnung, Furcht, Liebe, Verachtung, Hass, hingegen, steht es ganz anders. Denn meine Leidenschaften, ins Besondere meine Sehnsucht nach Dir, und meine Liebe für Dich, mein liebes gutes Kind, sind mir unmittelbar, und bestimmen schlüssig und endgültig was ich tu und lasse, ob ich als ein "guter" oder ein "schlechter" Mensch eingestuft werden sollte. Meine Leidenschaften vergegenwärtigen die Vergangenheit und belassen mich in keinem Zweifel über was ich tun will, wenn auch in großer Unbestimmtheit und Unsicherheit ob ich es sollte oder dürfte. Wie die sprachlichen Imperative der Seelenethik unwiederbringlich versagen, so bestimmt und eindeutig sind die sprachichen Imperative der Herdenethik, wie sie in den sich von allen Seiten aufdrängenden Gesetzen erscheinen. Die Gesetze der Herdenethik aber bilden ein weiteres Kapitel. am 14. Juli 2018 Liebes Kind, Anderthalb Tage sind vergangen seit ich meinen Brief unterbrach. Den ganzen gestrigen Tag verbrachte ich mit Reisevorbereitungen, mit Packen und dem Verfertigen von Broten mit Schinken, Gurken und Käse. Und jetzt sitze ich im Salon des Eagle das große Schiff das sich langsam aus dem Hafen von Hyannis nach Lewis Bay schiebt. Dann der Sund, und in zwei Stunden sind wir auf Nantucket, - wie in den vergangenen Jahren so oft mit Dir! Damasls, Su besinnst Dich, drängte es mich an die Reling, aufs Deck, des Blicks halber über das weite blaue Meer. Wohl ist es mein Alter das mir zuflüstert, dass ich genug gesehen habe, und dass es jetzt darauf ankommt, was ich gehört, gesehen und erlebt habe, zu verstehen. Das ist leichter gesagt als getan. Ich habe Hunger. Aber die Brote und die Kuchen die ich mitgebracht habe sind im Gepäck verstaut; ich muss warten bis wir gelandet sind, vielleicht sogar bis zur Ankunft in Madaket. Mich beschäftigt der Widerspruch von Gegenwart und Vergagenheit, wie ein Rätsel das ich nicht zu lösen vermag. Mein Handeln ist unverbrüchlich gegenwärtig. Handeln in der Vergangenheit ist unmöglich. Die Vergangenheit ist der Handlung unerreichbar. Die Gegenwart ist der Erkenntnis unerreichbar; denn was ich erkenne ist unvermeidlich vergangen - oder nicht? Handle ich nicht aus einem Dunst dem ich nicht zu entlommen vermag bis die Vergangenheit aus ihm aufgetaucht ist. Madaket. Das wären vielleicht noch weitere vier Stunden.