Mein liebes gutes Kind, Entschuldige bitte dass ich mich von meinem Schreiben an Dich habe ablenken lassen, erst durch einen Brief an Niels Holger Nielsen, den Vater unseres Nachbarn Alexander Nielsen, dann durch das Redigieren eine Aufsatzes über Anton Bruckner, worum Nathaniel mich bat. Er wird übermorgen Abend Bruckners Dritte Symphonie dirigieren, ausgerechnet in der Lutherischen Kirche nah Harvard Square in welcher Pastor Steimle am 8. März 1952 Dich mit mir verheiratete. Ich schäme mich wegen der Oberflächlichkeit meiner Überlegungen, denn manchmal bedenke ich nur den Titel eines Buches ohne mich auf seinen oft verwickelten dunklen Inhalt einzulassen. So zum Beispiel gibt die Aufschrift von Schopenhauers berühmten Buch Die Welt als Wille und Vorstellung mir viel zu bedenken, ohne dass ich mir die Mühe des Versuchs mache, seine verwickelten und mir oft unverständlichen Gedanken nachzuvollziehen. Heute am späten Nachmittag Heideggers Titel Zeit und Sein, der mir unmittelbar die Fragen vorlegt: Was ist Zeit? Und was ist Sein, und solange ich keine Antworten finde, komme ich über den Titel nicht hinweg. Die Frage nach Zeit wird dringend für mich, wenn ich den Inhalt von Albert Schweitzers Buch über Kultur und Ethik bedenke; den Schweitzer ist überzeugt von der hohen Kultur von welcher er meint dass sie am Ende des 18 Jahrhunderts gewaltet habe, und sich zum Teil wegen der naturwissenschaftlichen Fortschritte des 19. Jahrhunderts im Rückgang befindet. Die Menschheit, meint Schweitzer wird untergehen wenn es ihr nicht gelingt die Kultur zu retten oder eine neue Kultur zu (er)finden. Ich erinnere Rilkes Feststellung, das was geschieht hat einen solchen Vorsprung vor unser Meinen, dass wirs nie einholen und nie erfahren wie es wirklich aussah. Kultur am Ende des 18. Jahrhunderts? Wirklich? Die französische Revolution, die großartige Erfindung des Dr. Guillotine, die Versklavung der afrikanischen Neger, die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner, die Eroberungskriege Napoleons. All das sollte gelten als Kultur deren Verlust man nun bedauert und beklagt? Eher, möchte ich meinen sollten Schweitzers Traumbilder der Vergangenheit als Muster einer zeitgenössischen Mythenerfindung welches nicht die verlorene Kultur sondern ein bedauernswertes Missverständnis der Vergänglichkeit und der Vergangenheit besagen. Denn die unleugbare Tatsache ist dass die Vergangenheit uns unzugänglich ist. Goethe hat gechrieben: Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist aus der Anmaßung die Vergangenheit zu bestimmen vermögen, gar manches über unsere Beziehung zur Zeit zu erkunden. Vornehmlich dass wir die Vergangenheit stets und ausschließlich in der Gegenwart erleben. Die Aufgabe und das Wesen des Museums ist als Bühne für ein gegenwärtiges Erleben der Vergangenheit. Es steht außerhalb jeglichen Zweifels, dass ein gegenwärtiges Erleben des Einstigen, des Vergangenen, unsere Gegenwart bereichert; doch ebenso zweifellos ist dass wie leidenschaftlich auch immer unser diesbezügliches Erleben sein mag, dass alles Vergangene unwiederbringlich sein muss ist das große unerbittliche Gesetz der Zeit. Indessen ist die Zukunft alles andere als Spiegelbild der Vergangenheit. Wie unerreichbar auch immer, das Vergangene ist unabänderlich bestimmt. Von der Zukunft muss indessen erkannt werden, dass sie uns zwar in mancher Hinsicht mit unabänderlicher Bestimmtheit begegnet, andererseits aber mit Möglichkeiten, mit Unbestimmtheiten die auch durch die raffinierteste mathematische Berechnung nicht behoben (beseitigt) werden können. Beide, Vergangenheit und Zukunft erstrecken sich in unabsehbare Fernen, sind uns jedoch von Belang je näher sie an die Gegenwart grenzen. Und was ist Gegenwart? Die Gegenwart ist die zeitliche Spanne unserer Handlung die sich von jedem Augenblick in eine (verhältnismäßig) eng begrenzte, eng beschränkte Einteilung der uns am nächsten liegenden Zukunft liegt. Ihr Ausmaß ist Funktion des Gemütes die sich von Augenblick zu Augenblick verändert, zuweilen sehr kurz, wiederum aber auch ausgedehnter als erwartet.