Mein liebes gutes Kind, in der vergangenen Nacht hab ich lange - fast 12 Studen - geschlafen, doch war es ein unruhiger, sehnsüchtiger Schlaf, denn Du hast mir sehr gefehlt. Ich weiß nicht ob es Einbildung oder Anmaßung ist, dass ich meine heute Morgen den Versuch machen zu sollen meinen Gedankenbau, unvollkommen und armselig wie er nun einmal ist, zu erweitern. Ich würde es tun um mich in meiner Einsamkeit zu trösten, denn außer Bemühungen dieser Art und außer meiner Vorstellungen von Dir - Du weißt, mein Dasein ist Wille und Vorstellung - lebe ich in einer seelischen Öde. Ich frage mich inwiefern das ontologische Rätsel von Zeit und Sein eine gültige Geistesaufgabe, und inwiefern eine sprachliche Missgeburt sein möchte. Vielleicht wären Zeit und Sein selbstverständlich wenn ein gerissener Schlauberger sie nicht verdächtig gemacht hätte. Dennoch muss ich bekennen, dass auch in meinem eigensten Erleben dem ontologischen Komplex von Sein und Zeit Unbestimmtheit und Zweideutigkeit anhaften die den Versuch sie aufzuklären der Mühe wert machen. An und für sich, finde ich, besagt das Wort Zeit von der Fülle des Lebens die es verspricht sehr wenig, oder garnichts: Erinnerung, Erwartung, Hoffnung, Enttäuschung, Verwandlung, Beständigkeit, Tod, Leben, Bestehen und Vergehen sind zeitgebunden. In Beziehung zu ihnen ist das Wort Zeit ein Schlüssel der das Erleben verbirgt statt es zu erschließen. Verwirrung entsteht besonders durch die große Bedeutung und dem hohen Wert welche wir der Messbarkeit und dem Messen der Zeit anrechnen. Rilke hat geschrieben: Und mit kleinen Schritten gehn die Uhren neben unserm eigentlichen Tag. Die Vereinbarung dieser sich scheinbar widersprechenden und widerlegenden Erscheinungen der Zeit, einerseits als Bühne des Erlebens, andererseits als Register unendlicher Teilung, scheint mir der Mühe wert. Vielleicht ergibt sich eine Problematik des Zeitverständnisses daraus, dass wir die messbare und erlebbare Zeit mit ein und demselben Worte benennen. Stimmt doch die erlebte Zeit mit der gemessenen Zeit, wenn überhaupt, nur selten überein. Die messbare Zeit wird durch das Vorgehen des Messens geschaffen. Die erlebbare Zeit besteht in Erscheinungen im Leben des einzelnen Menschen. Ich fasse zusammen und schreibe dass die Symbolik, Mathematik und besonders die Sprache, unzulängliche Bilder und Erklärungen des Zeiterlebens liefern, und dass nur die Sprachkunst, will sagen, die Dichtung, eine Aussicht auf mehr gültiges Verständnis verspricht. Das systematische Messen der Zeit, die Uhren und die Kalender möchten neue Probleme schaffen anstatt die bestehenden zu beheben. Für das Sein habe ich eine vielleicht allzu einfache Erklärung. Sein ist ein Ergebnis meiner wiederkehrenden Wahrnehmung des Äußeren - aber auch des Inneren - die mich überzeugt das etwas Bleibendes unabhängig von dieser Wahrnehmung besteht und bestehen bleibt. Diese Unabhängigkeit von meiner Wahrnehmung des scheinbar Bleibenden heiße ich das Sein. Somit ist es die Eigenschaft des Seins dass es der von der Zeit bewirkten Wandlung widersteht. In diesem Sinne ist das Sein ein Gegensatz zur verändernden Zeit, aber ein bestätigender Zusatz zur bewahrenden Zeit. Soviel über Sein und Zeit. Aus Vorhergehendem ergibt sich die Methode mittels welcher ich mein Erleben nicht nur mit dem eigenen Denken sondern auch mit dem allgemeinen Denken vereinbare, - denn auch das allgemeine Denken verlangt von mir, wie alle anderen Bestände meiner Umwelt, erlebt zu werden. Diese meine Methode aber besteht in der Eingliederung des Fremden in mein eigenes Denken, Fühlen und letztlich auch in mein eigenes Erleben. Dass dieser Vorgang mich (in gewissem, beschränktem Maße) verwandelt ist unbestritten. Jedoch bewirkt dieser Vorgang der Anpassung, der Assimilation, eine gegenseitige Verwandlung nicht nur meiner selbst, sondern auch des Reizes der mich verwandelt, dem ich mich angleiche, den ich in mich aufnehme. Als einen solchen Vorgang erkenne ich die Entwicklung des geistigen Lebens. Liebes Kind, ich darf nicht vergessen, ich darf nicht aufschieben bis es zu spät ist, über meine Vorstellungen von der Ethik als dem möglicherweise wesentlichsten Teil des Gedankenhaushalts Rechenschaft abzulegen. Werde dazu gemahnt auch von Albert Schweitzer, in dessen Buch Kultur und Ethik ich in diesen Tagen lese. In diesem Text tritt Schweitzer auf als ein Prophet welcher der Menschheit eine Warnung wegen eines bevorstehenden katastophalen Untergangs erteilt und sie anfleht sich durch angewandte praktische volkstümliche Philosophie davor zu retten. Schweitzers Buch erinnert an Platons Staat mit der Vorlage zur Gestaltung einer gerechten und tugendhaften Gesellschaft. Dies ist ein Unternehmen dass ich mir nicht zutraue. Hingegen scheint es mir wünschenswert, wenn nicht gar notwendig, zu Anfang und als Grundlage zu bedenken, was denn die tatsächlich waltenden und wirkenden ethischen Forderungen der Gesellschaft in der ich lebe sein möchten. Ich unterscheide zwischen einer subjektiven Ethik, welche ich als Seelenethik bezeichne und einer Gesellschaftsethik, die ich Herdenethik nenne, weil der Einzelne in der Gesellschaft, wie in einer Herde genötigt wird das was alle anderen tun, mitzumachen. Tatsächlich sind unsere Gerichte Beispiele und Vorbilder einer angewandten Ethik, in der Seelen- sowohl als auch in der Herdendimension.