Mein liebes gutes Kind! Über Erkenntnistheorie habe ich Dir neulich geschrieben, und auch ein wenig betreffs Ontologie. Gestern machte ich den Anfang mich mit Dir ein wenig über was geläufig als Ethik bezeichnet wird auseinanderzusetzen, angeregt durch Albert Schweitzers Buch, Kultur und Ethik, aus Konnarock verloren aber von Klemens großzügig ersetzt. Einen Anfang hatte ich damit gemacht im Internet, in Wikipedia, über Ethik nachzulesen, und befand mich plötzlich von einer Flut willkürlicher und kaum zusammenhängnder Behauptungen überschwemmt. Denn jedermann hat eine Ansicht wenn nicht betreffs der eigenen, dann mit großer Bestimmtheit über die ethischen Pflichten seiner Nachbarn. Um in dieser unerwünschten Fülle nicht zu ersticken, nicht zu ertrinken, oder nicht zu ersaufen - entschuldige bitte die Grobheit meiner Worte - scheint es mir vorerst notwendig mich an mich selbst zu wenden, und mich zu fragen, was bedeutet mir die Ethik? Was will, was soll, mit dem Worte Ethik gesagt sein? Da entdecke ich, ganz am Anfang, zwei Abteilungen der Ethik. Die erste Abteilung möchte ich mit dem Ausdruck Herdenethik benennen. Das ist keineswegs abschätzig gemeint. Es soll der Tatsache gerecht werden, dass wir Menschen sehr oft, wenn nicht gar meist in Gesellschaft, in mehr oder weniger engem Zusammenhang mit unseren Mitmenschen Handeln, und dass demgemäß die Handlung eines jeden von seiner Gruppe bestimmt wird. Zugegeben, Schiller hat einst in seinem Reiterlied geschrieben: Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! Ins Feld, in die Freiheit gezogen. Im Felde, da ist der Mann noch was werth, Da wird das Herz noch gewogen. Da tritt kein anderer für ihn ein, Auf sich selber steht er da ganz allein. Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist, Man sieht nur Herren und Knechte, Die Falschheit herrschet, die Hinterlist, Bey dem feigen Menschengeschlechte, Der dem Tod ins Angesicht schauen kann, Der Soldat allein ist der freie Mann. Des Lebens Aengste, er wirft sie weg, Hat nicht mehr zu fürchten, zu sorgen, Er reitet dem Schicksal entgegen keck, Trifts heute nicht, trift es doch morgen, Und trift es morgen, so lasset uns heut Noch schlürfen die Neige der köstlichen Zeit. Von dem Himmel fällt ihm sein lustig Loos, Brauchts nicht mit Müh zu erstreben, Der Fröhner, der sucht in der Erde Schooß, Da meint er den Schatz zu erheben, Er gräbt und schaufelt, so lang er lebt, Und gräbt, bis er endlich sein Grab sich gräbt. Der Reuter und sein geschwindes Roß, Sie sind gefürchtete Gäste, Es flimmern die Lampen im Hochzeitschloß Ungeladen kommt er zum Feste. Er wirbet nicht lange, er zeiget nicht Gold Im Sturm erringt er den Minnesold. Warum weint die Dirn’ und zergrämet sich schier? Laß fahren dahin, laß fahren! Er hat auf Erden kein bleibend Quartier, Kann treue Lieb’ nicht bewahren. Das rasche Schicksal, es treibt ihn fort, Seine Ruhe läßt er an keinem Ort. Die Welt welche dies Lied beschreibt ist verschwunden, wenn sie überhaupt je bestanden hat. Der moderne Soldat soll von seinem Kameraden ununterscheidbar sein, und als Herdenethik par excellence fordert die Soldatenethik von allen Soldaten das gleiche: die Befehle des Befehlshabers auszuführen. In vergleichbarer Weise erfüllt jeder Beamte seine Pflicht des Gehorsams indem er so handelt wie die Beamtenschaft es von ihm erwartet. Heutzutage erstreckt sich das Beamtentum weit und tief ins tägliche Leben, denn der Angestellte ist in vergleichbarer Weise ein Geschäftsbeamter der tut und lässt ohne sein eigenes Gewissen einzusetzen, wie es ihm befohlen wird, es sei denn, wie Immanuel Kant behauptet, der Gehorsam der höchste Ausdruck des Gewissens. Für Kant ist die Befolgung des Befehls, des Kategorischen Imperativs, der Inbegrff der Tugend. Im Gegensatz zur Herdenethik gibt es eine Seelenethik welche vom Gewissen des Einzelnen beherrscht wird. Das sind große Worte, sprichs gelassen ausgesprochen. Schließlich ist auch der Einzelne ein Teil der Gesellschaft von der er sich nie völlig zu befreien vermag. In diesem Gegensatz von Ich und Wir liegt die Spannung welche das Denken und Fühlen Kierkegaards beflügelt. Diese Spannung, erhält im Richteramt ihren endgültigen Ausdruck. Das Amt des Richters, wenn es gelingt es zu begreifen, ist das eigentliche Thema der Ethik. Die Aufgabe des Richters ist das gedruckte Gesetz, als Niederschlag der Herdenethik, mit den jeweiligen besonderen Umständen in welchen der Einzelne sich befindet zu vereinbaren. Dies mein Verständnis, liebes Kind, ist die Frucht meiner jahrelangen Verwicklungen in Rechtsfragen. Bäte jemand um eine praktische Vorführung (Demonstration) einer Ethik, so wüsste ich ihm nichts mehr Überzeugendes zu zeigen als unsere Gesetze samt der Anwälte und Richter welche sie (einsetzen, implementieren). Mit der Einrichtung gestzmäßiger richterlichen Entscheidungen sind alle Vorbedingungen (Postulate, pre-conditions) der Ethik erfüllt. Dem entsprechend ist der Gerichtssaal das Laboratorium wo die Vollstreckung des Gesetzes als Experiment beobachtet und bewertet werden kann.