Mein liebes gutes Kind, Gestern Abend hatte ich mir vorgenommen, heute Morgen, statt als erstes einen Brief an Dich anzufangen, mit dem Aufräumen des Gartenzimmers im 3. Stock, dann des restlichen Hauses zu beginnen. Es ist ein grauer regnerischer Tag mit dicht bewölktem Himmel, und auch meine Seele, - oder sollte ich schreiben, meine Stimmung, ist grau und bewölkt. Indem ich so schreibe erinnere ich Deine alten Briefe an mich in welchen Du den düsteren Tag beklagtest, dann aber berichtigend hinzu setztest, "Und doch geht es mir viel besser als letztes Jahr." So auch ich, wenn jetzt ich die alten, vor etwa siebzig Jahren geschriebenen Briefe meiner Jugend lese, als ich gesund und rüstig war, und das Leben sich wie eine blumenbestückte Wiese vor mir ausbreitete, und ich dennoch so um das eigene Seelenheil besorgt war, dass ich kaum atmen konnte, und bedenke wieviel besser es mir heute, selbst an einem grauen regnerischen Tage ergeht, wo das Leben hinter mir liegt, und ich wenngleich mit unsicherem Gewissen sagen darf, Ich habe genug. Gestern Abend, als ich meinte die verzweigten Pfade meines Denkens noch einmal bestätigend nachziehen zu sollen, stählerte sich meine Überzeugung dass meine Gedanken in Worte ausgelaufen waren, - oder vielleicht sich in Worten verlaufen hatten, wenngleich an der Ent- und Abwicklung des Denkens, wie immer redselig, eine gewisse Genugtuung haftet. Zuletzt hat das Denken als ein langes, vielleicht langweilendes Selbstgespräch, eine Ähnlichkeit mit der Musik, die wie vorgestern Abend keineswegs unbedingt erbaulich verklingt, die sich im ihrem Verlauf bestrebt erscheint sich selbst zu beweisen und zu rechtfertigen, und dann, wenn sie vorüber, wenn sie zuende ist, ein tiefes Aufatmen in Befreiung, in freier Luft auslöst. Vergleichbar mit dem Leben, wenn es zuende geht. Im Rückblick, oder genauer, im Echo, im Nachklang des Denkens, ist Inhalt kaum oder garnicht erkenntlich. Der Beschluss, dass es nur Worte waren, die dem Gemüt zwar erbauliche doch verrinnende Gedanken einflößten, wie herzerhebende Töne die umgehend im hohen Gewölbe verklungen sind. Übrig bleibt erstens der Schluss dass alles Wissen ein Können ist, und nicht im Geringsten ein Können mit Worten, mit Sprache. Man bedenke das Wunder Gedanken in einer Sprache wie der englischen, griechischen, französischen, deutschen Sprache zum Ausdruck zu bringen und zu verstehen! Welch weiterer Erkenntnistheorie bedarf es ein solches Glück zu bestätigen? Übrig bleibt zweitens der Schluss, dass die Suche nach Ethik überflüssig ist. Tatsache ist dass wir in Gesetzen, Vorschriften, Regeln, Anweisungen ersticken; sie alle sind keineswegs Erscheinungen individuellen Gutdünkens; sie sind Bestimmungen der jeweiligen Gesellschaft. Alle äußere Ethik ist Herdenethik. Die persönliche, individuelle, innere Seelenethik aber ist mit sprachlicher Verkündung unvereinbar. Seelenethik offenbart sich nicht in was ich sage, sondern in was ich tue, und letztlich, in wer ich bin. Herkömmliche Ansätze zur allgemeinen oder besonderen Ethik sind Bestrebungen die eigene Seelenethik in allerwelt Herdenethik zu verwandeln. Das kann nicht gelingen. Worauf es ankommt ist uns mit der unvollkommenen Symbolik in welcher unser Erleben und unsere Erfahrung zum Ausdruck kommt zu befriedigen oder dieser Symbolik zu entsagen, und das Erleben und die Erfahrung hinnehmen wie sie sich ergeben. Somit, liebes Kind, hab ich mich wiederholt. Hab Dir nichts weiter zu erzählen als meine Liebe für Dich, und die ist unsagbar. Es ist fünf vor Elf. Ich will in die Küche zum Frühstück, aber mein Denken an Dich hört nicht auf.