Mein liebes gutes Kind, Schon ist es halb eins; es wäre mir peinlich Rechenschaft abzulegen, wie ich den langen Morgen verbracht habe, was ich getan und versucht habe zu tun. Zwei ergebnislose Versuche den Automechaniker Chavdar Leonteov auf Nantucket telephonisch zu erreichen, ein e-mail Austausch mit Nicola Chubrich, Nathaniels verrücktem Bratschistenfreund, der mir von Tag zu Tag androht mich zu besuchen, und der es im Sinne hat mich so oder anders, bekannt, berüchtigt, berühmt zu machen. Hab auch ein bisschen, doch ohne Erfolg, versucht in den Gedichtszeilen über mein Schreiben an Dich herumzustochern, oder sollte ich es Briefwechsel nennen, der ich mir der ununterbrochenen Nachricht die aus Stille sich bildet, von Stunde zu Stunde so dringend bewusst bin. Du besinnst Dich wie sich mir schon als junger Mensch, die Vorstellung von Arbeit, von meiner Arbeit, als Ausweg, als Flucht- und Rettungsweg aus den Mühen und Enttäuschungen des täglichen Lebens aufdrängte. Das ist der Fall bis auf den heutigen Tag. Zuvor bestand meine Arbeit vornehmlich in meiner ärztlichen Praxis, dann war es Dich zu pflegen woran ich meine Kräfte verausgabte, und seitdem Du fortbist, das Dichten und Denken. Zuerst die zweihundert Sonetten, die Inselelegie, und dann das Nachdenken über die ersten und letzten Fragen das mich zu dem bedrohlichen Beschluss führte, gewissermaßen eine Antwort, oder verdächtiger noch, eine Gruppe von Antworten auf meine Fragen gefunden zu haben. Selbstverständlich war mir Lessings mahnendes Vorbild gegenwärtig welches das ewige Fragen als Antwort, das nimmer endende Suchen als Lösungen vorschlägt oder vorschreibt. So betrachte ich die Antworten die ich meine gefunden zu haben als vorläufig, vielleicht als ein Kurzschluss im Denken der sich mit der Zeit als Vorspiel zu noch eindringlicherem Fragen und Forschen beheben wird. Diese vorläufige Beantwortung läuft, was das Erkennen anbelangt, darauf hinaus, dass Erkennen sich selbst beweist, bestätigt und keiner erklärenden Wortklauberei bedarf. Um das Wissen, das Können besser zu begreifen gilt es sich im Lernen der verschiedensten Sachen zu üben, statt vom Lernen zu träumen oder darüber zu reden, eben wie man das Geigen lernt, nicht indem man davon erzählt, sondern indem man die Geige unters Kinn setzt, die Finger auf das Brett, und mit der rechten Hand die Saiten mit dem Bogen streicht. Ich betrachte alles Erwerben des Wissens und des Könnens als Metamorphose von Körper, Geist und Seele die im Vorgang des Lernens verwandelt werden, und n unmehr anderes sind als sie waren Wo es aber so vieles und so vielerlei zu lernen gibt, ist der Bereich von Wissen, Können und Verstehen nur durch das Leben des Lernenden begrenzt. Was die Ethik anbelangt so hab ich nichts zu sagen, als zu wiederholen dass es eine Ethik des Volkes, eine Herdenethik gibt, und eine Ethik des Einzelnen, eine Seelenethik. Die Verbindung, die gegenseitige Abhängigkeit von Herdenethik und Seelenethik ist das ursprüngliche ethische Problem, in der Gesamtheit unserer Gesetze, Gerichte und Richter dargestellt, mit all ihren Möglichkeiten, Errungenschaften, Fehlern, Unzulänglichkeiten und Unmöglichkeiten. Diese seit Moses Zeiten bestehende Ethik muss als Vorlage dienen, ein Muster dessen Beschränkungen wir verstehen müssen insofern wir den Anspruch erheben die bestehende Ethik zu verbessern oder neue Ethik zu entwickeln. Die Dialektik von Gesellschaft und Individuum ist auch im Bereich der Ästhetik von wesentlicher Bedeutung. Auch hier gibt es eine Herdenästetik und eine Seelenästhetik. Wenn man, wie es sich gebührt zwischen bildenden Künsten, Musik und Literatur unterscheidet, ergibt sich sofort die Tatsache dass Kriterien wie gut, schön, sinnvoll, erbaulich auf jedem diese Gebiete eine anderfe Bedeutung hat, und dass es deshalb notwendig ist die Ásthetik der bildenden Künste, die Ästhetik der Musik und die Ästhetik der Literatur von einander zu unterscheiden. Diesen Gebieten gemeinsam sind die Tatsachen: a) dass auf jedem der äathetischen Abteilungen die Wertung, das Schöne also, jedenfalls teilweise in der Beschaffenheit des menschlichen Körpers, wie etwa des Auges und des Gehörs gegründet ist, b) dass diese Wertung von gesellschaftlichen Beziehungen stark beeinflusst wird, und c) dass ästhetische Reize Geist, Seele und Körper des Menschen nicht nur erregen, sondern dass diese Reize zugleich eine Wandlung, eine Assimilation bewirken welche die Empfänglichkeit für das ästhetisch wertvolle wesentlich steigern, und diese Empfänglichkeit in bedeutender Weise zugrunde liegen. Für weiteres Ausführungen habe ich heute keine Zeit. Lass uns beide gut schlafen und von einander träumen.