Liebes Kind, Heute bist Du 1014 Tage, mehr als zwei und drei viertel Jahre, fort, und dies ist der neunundreißigste Brief den ich Dir schreibe. Was soll das bedeuten? Ist es ein zynischer, vielleicht abgeschmackter Witz? Ich bin zuversichtlich dass meine Briefe die ich sammle und den anderen Briefen die ich Dir in den verstrichenen 69 Jahren geschrieben habe hinzufüge, und immer wieder lesen werde so wie ich in unserer Korrespondenz fast täglich lese. Es ist belanglos dass ich mit meinem Lesen nie zuende komme, denn es ist mir ja eine Notwendigkeit wenn ich überhaupt leben soll, jeden Morgen aufs Neue, von einem neuen Ausgangspunkt anzufangen. Auf dem alten Klapptisch aus Deinem Baynton Street Arbeitszimmer, in der zweiten Etage des Anbaus, gegen den Garten, nächst dem Bett wo wir die letzten Jahre zusammen schliefen, habe ich mir die letzten Bücher die Du gelesen und bedacht hast, die Bücher mit und über Shakespeares Sonetten, zurecht gelegt, und darin finde ich immer wieder der Gedanken, dass das Gedicht den oder sollte ich schreiben die mit ihm gepriesene unsterblich macht. Sonnet 18: Shall I compare thee to a summer’s day? Thou art more lovely and more temperate: Rough winds do shake the darling buds of May, And summer’s lease hath all too short a date; Sometime too hot the eye of heaven shines, And often is his gold complexion dimm'd; And every fair from fair sometime declines, By chance or nature’s changing course untrimm'd; But thy eternal summer shall not fade, Nor lose possession of that fair thou ow’st; Nor shall death brag thou wander’st in his shade, When in eternal lines to time thou grow’st: So long as men can breathe or eyes can see, So long lives this, and this gives life to thee. Sonnet 55: Not marble nor the gilded monuments Of princes shall outlive this powerful rhyme, But you shall shine more bright in these contents Than unswept stone besmeared with sluttish time. When wasteful war shall statues overturn, And broils root out the work of masonry, Nor Mars his sword nor war’s quick fire shall burn The living record of your memory. ’Gainst death and all-oblivious enmity Shall you pace forth; your praise shall still find room Even in the eyes of all posterity That wear this world out to the ending doom. So, till the Judgement that yourself arise, You live in this, and dwell in lovers’ eyes. Vielleicht ist diese Gesinnung, dass Dichtung die Gepriesene unsterblich macht nichts weiteres als ein Kunstgriff, ein Lieblingsconcetto Shakespeares. Mit Kunstgriffen aber lässt sich nicht Leben. Ein Kunstgriff muss einen Sinn haben, besonders dieser. Wenn ich mich auf den Standpunkt begebe dass meine Welt mein Wille und meine Vorstellung ist und wenn es meinerseits eine realistische Beobachtung ist, dass ich die Vorstellung meines eigenen Todes unmöglich finde, weshalb Selbstmord stets unnatürlich und pathologisch erscheint, und dass mein Gedicht auf Dich nicht weniger lebendig in mir ist als Wille und Vorstellung des eigenen Lebens, dann ist die Behauptung, dass mein Gedicht Dir Dein Leben bis ans Ende der Zeit, d.h. bis ans Ende meines eigenen Lebens erhält, durchaus folgerichtig. So lange meine Gedicht auf Dich in mir lebendig ist, bist Du mir so lebendig wie ich mir selbst es bin. Was zu beweisen war.