Mein liebes gutes Kind, Indem ich meinen Tagesbrief an Dich beginne, ist es schon viertel nach elf. Gefrühstückt hab ich noch nicht, bin aber auch nicht übermäßig hungrig. War, wie fast jeden Morgen, enttäuscht aufzuwachen statt bei Dir zu sein. Die statistisch berechnete mir noch bevorstehende Lebensdauer ist 4.9 Jahre. Auf diese Spanne, oder eine noch längere muss ich gefasst sein, obgleich ich Glück haben könnte. "Es könnte heute noch sein!" und in den Worten des Freundentanzes aus Kantate 56: Endlich, endlich wird mein Joch Wieder von mir weichen müssen. Da krieg ich in dem Herren Kraft, Da hab ich Adlers Eigenschaft, Da fahr ich auf von dieser Erden Und laufe sonder matt zu werden. O gescheh es heute noch! Das ist vielleicht eine barocke Übertreibung, aber in diesen Tagen - Wochen - Monaten - überwiegt meine Angst vor dem zu langen Leben die mehr gewöhnliche Angst vor dem zu baldigen Sterben. Vorgenommen habe ich mir, fest vorgenommen, fortzufahren mit dem Schreiben, ohne Erwartung auf Veröffentlichung, oder auch nur auf Leserschaft, fortzufahren zu beschreiben was immer mir auffällt oder einfällt, ob vernünftig oder unvernünftig, ob verständlich oder unverständlich, ob Sinn oder Unsinn. Warum? Schreiben ist Bestätigung des Denkens, und denken ist mir so lebensnotwendig wie atmen. Mag sein, dass ich mich täusche, dass ich mich betrüge, dass ich dem sauren Trauben Gleichnis aufs Äußerste verfallen bin wenn ich mich überzeuge dass mein bisheriges Schreiben zu Ruhm und Anerkennung reicht, dass diese aber dem Zufall anheimfallen, und dass meine Zufriedenheit, mein Glück, mein Leben und Überleben nicht von ihnen abhängt. Ich bedenke die Behauptung des Horaz, dass er in seinen Versen fortleben wird, die Behauptung Shakespeares, dass seine Freundin oder sein Freund im Sonett des ewigen Lebens habhaft wird. Verstehe meinerseits meine Welt als mein Wille und meine Vorstellung, und bemerke wie das Gedicht als ausgesuchte Sprache in dieser meiner Welt ein verlässliches Bestehen hat und so lange wärt wie mein Denken, indessen die Grenzen meines Denkens die Grenzen der mir bewussten und gegenwärtigen Zeit sind. In diesem Sinne bezeichnet der Inhalt meines Gedichts die Ewigkeit für mich.