Mein liebes gutes Kind, anfangs jedenfalls ist dies nur eine Probe, die mich belehren soll ob es praktisch sein wird am Flughafen, während der drei Stunden die ich wartend im Rollstuhl verbringen werde, diesen Brief an Dich fortzusetzen. Noch nicht am Flughafen, noch nicht im Rollstuhl sondern am Küchentisch, um viertel nach eins, höre mit viel Hingabe Bachs siebtes Cembalo Konzert, und erwäge einen Gedanken, den ich niederschreiben möchte eh ich ihn vergesse. Es handelt sich um die Vorstellung die verschiedentlich in Shakespeares Sonetten auftaucht dass das Gedicht den Geliebten oder die Geliebte unsterblich macht. Dies eine Variation der These der Alten, ins besondere Horaz, der meinte das Gedicht verewige den Dichter. Ich frage mich, ob diese Ewigkeitsversprechungen, welche den flüchtigen Leser als scherzhaftes Concetto anmuten vielleicht doch eine tiefere Bedeutung haben. Wieder einmal möchte ich sie von den Standpunkten objektiver Sachlichkeit und subjektiven Erlebens betrachten. Aus der Perspektive objektiver Sachlichkeit wird jeder Mensch sterben; kein Mensch wird auferstehen, und kein Mensch wird ewig leben. Ich weiß nicht inwiefern es möglich ist, mir aus der Perspektive subjektiven Erlebens einen Schlaf vorzustellen aus dem ich nicht erwache. Der Schlaf aus dem es unmöglich ist zu erwachen heißt Tod. Ist es erlaubt diesen großen Unterschied zu übersehen, und trotz des großen Unterschieds den Tod als einen Schlaf aus dem ich nicht erwache zu bezeichnen? Die Welt in der ich lebe ist fortwährend in Verwandlung. Sie vergeht. Verbleiben tut nur das Bewusstsein meiner selbst. Die Beständigkeit dieses Bewusstseins ist durch die Dauer, durch die Verlässlichkeit des Verbleibens des Wortes verbürgt. Dies beweist mir dass ich der ich noch heute lebe und der ich es heute lese, dergleiche bin wie jener der das Wort gestern oder vor einem Monat oder vor zwanzig Jahren ursprünglich niederschrieb. Die Sprache also, ins Besondere die geschriebenen Worte, die ich lese und als dieselben Worte erkenne die ich einst niederschrieb und die ich immer und immer wieder lese, verbürgen mir, dass es dasselbe Ich ist das zu leben fortfährt. Die Worte des Gedichts verbürgen mein Leben. Solange mir dieselben Worte aufs Neue gegenwärtig werden, so lange es mir gegeben ist dieselben Worte in diesem Gedicht wahrzunehmen und zu erleben, bin auch ich der gleiche geblieben, bin auch ich (noch) am Leben. Aus diesem ist subjektiv jedenfalls der Schluss zu ziehen, dass das ewig sich gleich bleibende Gedicht auch mir, solange ich zu lesen vermag, ein (ewiges) Bestehen gewärt. Objektiv verfehlt, subjektiv verständlich. Objektiv unmöglich, subjektiv unleugbar. [undeniable].