Subjekt: Konglomerat Datum: am 31. Juli 2018 Lieber Herr Dr. Meyer, der 20. Juli ist hier gerade vergangen und die mit diesem Datum verbundene Ahnung von der Möglichkeit geistigen und tatsächlichen Widerstands gegen Totalitarismus und Völkermord möge mir als Folie für einige Zeilen dienen, die ich Ihnen jetzt endlich senden möchte. Für Ihre zwischenzeitlichen Briefe herzlichen Dank. Wie immer anregend und von wohltuender Wahrhaftigkeit. Wer solche Briefe erhält, sollte sich glücklich preisen und auf rasche Beantwortung aus sein. Dennoch habe ich mit einer Schreibblockade zu kämpfen, deren Ursprung mir nicht klar ist und die mich durchaus beunruhigt. Vielleicht ist es der widrige weltweite Zeitgeist, der jegliche Initiative selbstständigen Denkens und Formulierens im Keim erstickt. Aber eigentlich ist es ja das größte Privileg des Schreibenden, dass er sich frei machen kann von fremden Einflüssen und ganz nach eigenen Regeln antreten kann. Ich sehe, dass bei Ihnen das Nachdenken über Sprache wieder in besonderem Maße in den Mittelpunkt gerückt ist. (Erneuter Einsatz am 30. Juli) Das Vorhaben, den 20. Juli 1944 meinen Zwecken dienstbar zu machen, endet nach wenigen Zeilen in einer Aporie. So pauschal lässt sich geistige Hoffnung nicht aus diesem historischen Ereignis gewinnen. Da bedürfte es einlässlicher Untersuchung, um Ansatzpunkte für Freiheit, Mut und ethisches Handeln ableiten zu können. Aber ich nehme noch einmal Ihren Hinweis auf Sprache als zentraler Instanz auf. In der philosophisch-politischen Debatte über Heideggers “Schwarze Hefte” hat Daniela Helbig in ihrem Beitrag eine schöne Replik Hannah Arendts auf eine apodiktische Behauptung Heideggers wiedergegeben: “Das Sein manifestiert sich als der Gedanke.” (Heidegger, Identität und Differenz, S. 48) [Später eingefügt:] Und wie manifestiert sich der Gedanke? Hannah Ahrendt, Denktagebuch Der Gedanke manifestiert sich in und als Sprache. Ernst Jochen Meyer (Den dritten Schritt habe ich mir erlaubt, Ihnen in dieser Form zuzuschreiben.) Ich glaube allerdings nicht, dass die Linguistik in ihrer Beschreibung des Phänomens Sprache die letzte Wirksamkeit von Sprache erfassen kann, gleichwohl bedauere ich, nicht systematischere Kenntnisse auf diesem Gebiet zu besitzen. Offensichtlich verhält es sich aber so, dass sogar die Naturwissenschaften auf Narrative angewiesen sind, um Forschungsergebnisse plausibel darstellen zu können. Die Sprache in Dichtung und Philosophie bleibt der Urgrund für die Möglichkeit freier Existenz. Der politischen Rhetorik, die augenblicklich gerade in einer Phase der Verrohung sich befindet, kann durch bedachte und kunstvolle sprachliche Texte Paroli geboten werden. Und der Autor kann sich zudem durch Versenkung in seinen Gegenstand zumindest temporär von dem Druck des quälenden Weltlärms freimachen. An dieser Stelle möchte ich Sie fragen, wie Sie Produktion und Schicksal Ihrer Phase der Sonette jetzt einschätzen. Bis hin zum Tondokument mit eigener Lesung haben Sie ja Ihre Begeisterung für Sprache in dieser Ausdrucksform niedergelegt. In diesen Sonetten hatten Sie eine Lebenskrise durch die geniale Verwendung dieser Kunstform zur Strukturierung Ihrer Lebenserinnerungen überwunden. Nur Sprache in ihrer dichtesten Form kann derartiges leisten. In zwei Notaten habe ich kürzlich eine bündige Aussage zur Gefährdung von Sprache in heutiger Politik und Gesellschaft versucht. Inzwischen glaube ich, dass die Bemerkungen nicht wirklich belastbar sind. I. In Lügenzeiten sterben auch die Mythen, aus denen die Menschen die lebensfreundlichen Narrative schöpfen. II. Die schlechte Fiktion in den alltäglichen Lügen infiziert den Quellgrund der Erzählungen von Menschen und Göttern, von Bildern, Metaphern und Mythen, die bunte Welt der Vielgestaltigkeit, das Spiel von Dichtung und Wahrheit. Vielmehr ist es wohl eher so, dass die wahren Mythen sich gegen alle Zerstörungsversuche durchsetzen können. Gerade habe ich die Besprechung von einem neuen Buch von Martha Nussbaum gelesen. Sie gibt eine subtile Analyse der heutigen Situation und zeigt konstruktive Wege auf, sich der Diktatur entgegenzustellen, indem eben nicht Hass gegen Hass ausgespielt wird. Ich habe Martha Nussbaum einmal hier in Heidelberg nach einer Buchvorstellung kurz sprechen können. Eine glaubhafte Persönlichkeit mit gut begründeten Ansichten. Lieber Herr Meyer, ich freue mich zu hören, dass es Ihnen “Gut” geht, wie Sie es beschreiben, indem Sie die lakonische Ausdrucksweise von Alexander aufnehmen. Das lässt noch auf viel sprachlich Verfasstes von Ihrer Seite hoffen. Unsere Kinder und sind im Augenblick alle in Berlin. Am Samstag vor einer Woche hatte in Prag unser Enkel Lennart, jetzt in North Western, in Shakespeare‘s Much Ado About Nothing den Claudio gespielt. Die Aufführung fand im Ständetheater statt, dem Opernhaus, in dem am 29.10.1787 Mozarts Don Giovanni uraufgeführt wurde. Am 3. August kommen alle fünf für einige Tage zu uns nach Heidelberg. In der Hoffnung, bald wieder von Ihnen zu hören, herzliche Grüße, auch von meiner Frau, Niels Holger Nielsen Von meinem iPad gesendet