Lieber Herr Nielsen, Vielen Dank für Ihr mich außerordentlich anregendes Schreiben, das mich in einem scheinbar kritischen Augenblick erreicht, und in meinem Gemüt einen solchen Gedankenreichtum (oder einen solchen Unsinn) auslöst, dass meine Antwort wahrscheinlich mehrere Briefe umspannen wird. Der Behauptung Heideggers: “Das Sein manifestiert sich als der Gedanke.” möchte ich hinzusetzen, dass der Ausdruck "Sein" sinnvoll ist nur in Bezug auf Wirklichkeit, dass das Sein des Unwirklichen ein belangloses Wortspiel ist, und dass es zweierlei Arten Wirklichkeit gibt: a) Die objektive unerreichbare weil transzendentale Wirklichkeit als Vorstellung (Gegenstand), des in den Natur- und Geisteswissenschaften vermeintlich Gewussten, eine Wirklichkeit des Weltalls (des Universums) in grenzenlosen Raum und Zeit welche die Menschheit überspannen wie das Himmelzelt die Erde, eine Progression, ein Verlauf, zum unendlich Großen und Vielen, zugleich aber b) die subjektive unentrinnbare existentielle Wirklichkeit des ewig augenblicklichen, sich unablässig wandelnden inwendigen Bewusstseins des Einzelnen wie eine Progression, wie ein Verlauf, des unendlich wesenlosen und ewig verschwindenden Einzigen. Mathematisch sind a) und b) Kehrwerte. (reciprocal to one another) Die Wirklichkeit a) ist transzendental weil sie unerreichbar ist. Die Wirklichkeit b) ist transzendental weil sie unsagbar ist. Die geistige Tätigkeit besteht im Pendeln zwischen den beiden Wirklichkeiten, im Pendeln von a) zu b) und zurück. Es ist ein gleichzeitiges und deshalb außerzeitliches, Hin-und-Her. Die Aufgabe des Wissens ist das Ergreifen von a). Die Aufgabe des Verstehens ist das Begreifen von b). Indem ich so schreibe, wird mir klar 1) in welchem Maß die Wissenswirklichkeit (a) durch die Sprache geschaffen wird. 2) in welchem Maß die Bewusstseinswirklichkeit (b) sich der Sprache entzieht, wie etwa den Feststellungen zu entnehmen ist: "Ich bin mir bewusst nicht bewusst zu sein." "Ich bin mir nicht bewusst bewusst zu sein." Lieber Herr Nielsen, Gedanken über den 20. Juli 1944 werden so weitläufig dass ich sie für den nächsten Brief aufsparen möchte. Ihnen, Ihrer Frau, und Ihren Besuchern, herzliche Grüße! Jochen Meyer