To: Niels Holger Nielsen From: Ernst Meyer Subject: am 2. August 2018 Date: Wed, 1 Aug 2018 21:33:32 -0400 Lieber Herr Nielsen, Dies ist nun die zweite Teilsendung meiner Antwort auf Ihren so anregenden Brief. Wenn ich die erste Sendung überlese, fällt mir auf, dass ich mich unversehens wenn nicht in eine Darstellung more geometrico, dann vielleicht in eine Darstellung more arithmetico verstiegen habe, insofern ich meine Zeilen wie in einem Inhaltsverzeichnis mit Buchstaben oder Ziffern gekennzeichnet, und das große Thema Wirklichkeit in binärer, also in dialektischer Gestalt aufgeführt habe. Ich bemerke dass diese Arithmetisierung des Textes zugleich beitragen möchte die etwaige Gültigkeit und Verständlichkeit der Gedanken hervorzuheben, aber auch die eher wahrscheinliche Ungültigkeit und Verwirrung der Gedanken zu verschleiern. Beim Bedenken des Trauertages, des 20. Juli 1944, stellt sich mir die Schwellenfrage, was es bedeuten möchte noch heute, nach 74 Jahren, der Geschehnisse dieses Tages als gegenwärtig zu gedenken; und was es hingegen besagen würde diesen Tag nach so viel verstrichener Zeit, der Vergangenheit zuzuorden. Dazu eine bescheidene Vorlage: Mein Enkel Nathaniel unterlässt es grundsätzlich das Fenster das er geöffnet hat, zu schließen. Ich komme im Gewitter nach Hause. Der Regen spritzt durch's offene Fenster, welches ich wegen des anhaltenden Regens umgehend schließe. Hat sich nun wenn ich nach Haus komme, der Regen längst verzogen und die Sonne scheint, betrachte ich den Regen als vorüber. Nun ist es zu spät das Fenster zu schließen, nicht aber mit dem Schwamm die Lache zu trocknen, die sonst den gebohnerten eichenen Fußboden verdirbt. Steht stattdessen, obgleich der Regen vorläufig aufgehört hat, Donnergewölk am Himmel, das ein Wiedereinsetzen des Wassersturzes wahrscheinlich macht, so schließe ich vorbeugend das Fenster weil das Gewitter sich noch nicht endgültig verzogen hat. Dies langweilige Gleichnis soll meine Behauptung veranschaulichen, dass der Zustand wo mein leidenschaftliches Eingreifen überflüssig oder unmöglich erscheint, als vergangen gelten muss; indess der Zustand der mein leidenschaftliches Eingreifen herausfordert gegenwärtig ist. Durch eine Hintertür so zu sagen, bin ich bei Kierkegaards Samtidighed, Gleichzeitigkeit, angelangt. Wie ich mich in Anbetracht der drohenden Wiederkehr eines 20. Juli 1944 zu betragen habe ist ein Problem der Ethik dessen Lösung mir vorerst undurchsichtig ist. Dass Ethik ein Kodex sein sollte mit quasi-göttlichen Regeln die ich durch einen "freien Willen" zu befolgen befähigt bin, dünkt mich ein Märchen das mich höchstens zu Dummheiten verleitet die sich zufällig als erbaulich oder als schädlich erweisen mögen. Stattdessen scheint es mir dass in gegebener Lage meine Handlung bestimmt wird, einerseits von der Gesellschaft in der ich lebe, und andererseits von dem Wesen das aus mir geworden ist. Eh man zu sagen vermag, was Menschen tun sollten, ist es notwendig zu ermitteln, was sie tatsächlich tun. Wie eine idealisierte Vorstellung der Vorgänge im gesunden Körper möglich ist nur durch eingehendes Verständnis von Krankheitszuständen, so setzen idealisierte ethische Vorschriften für das Betragen der Menschen voraus, dass man weiß, wie sie sich tatsächlich benehmen. Ich erkenne zweierlei Ethik, eine öffentliche Gesellschaftsethik, die ich als Herdenethik bezeichne, und eine inwendige Gewissensethik, die ich Seelenethik nenne. An der Wurzel der ethischen Problematik liegt die fehlerhafte Voraussetzung, der Mensch unterscheide sich von den Tieren, insofern als jene den Eigenschaften ihrer Herden folgen, während er, der Mensch, einem freien Willen gemäß, seinem Gewissen, will sagen der inwendigen Stimme seines Gottes gehorcht. Diese Voraussetzung entspricht weder meinem Erleben noch meiner Erfahrung. Man übersieht, dass das wesentlichste Betragen des Menschen sein Sprechen ist; man ist taub gegen die unbedingte, notwendige gesellschaftsbedingte Einförmigkeit der Sprache als Vorraussetzung für das Mitteilungsvermögen. Die Handlungen des Menschen, abgesehen von der Sprache, sind nicht weniger gesellschaftsbedingt als sein Sprechen. Nicht Immanuel Kant mit seinem inhaltsleeren kategorischen Imperativ und dessen unbestimmbaren Befehlen, sondern Konrad Duden mit seinen autoritären, willkürlichen Anweisungen zur Einheitlichkeit welche uns unser Sprechen einander verständlich und annehmbar machen, ist der maßgebende Ethiker in unserer Kultur. So ergeben sich die Umstände, dass der Mensch, als Beamter, als Soldat fast völlig und bedingungslos in seine Gesellschaft eingegliedert wird. Dabei strauchelt der Einzelne im turbulenten Kielwasser gesellschaftlicher Forderungen, bedrängt einerseits von den Erwartungen und Forderungen seiner Mitmenschen und andererseits von den Bedürfnissen und Notwendigkeiten des eigenen Ich. Oft sind die Besonderheiten der Umstände entscheidend, so dass es unmöglich ist eine verlässliche Regel zu finden. Hinzu und darüber hinaus wirkt die Unzulänglichkeit der Sprache den jeweils geheimnisvoll besonderen Umständen zu genügen. Man vergesse nie, "das was geschieht hat einen solchen Vorsprung vor unserm Meinen, dass wir's nie einholen, und nie erfahren wie es wirklich aussah." (Rilke, Requiem für Kalkreuth) Normative, praktisch anwendbare ethische Regeln sind die Phantasmagorieen eines idealistischen Traums. Als Vierzigjähriger, 1970, machte ich eigene Erfahrungen auf dem Gebiet der angewandten Ethik mit einem zehn Jahre lang währenden Prozess gegen die Augenklinik der Universität wegen der Misshandlungen unterbemittelter Patienten für welche man von mir als Stabsarzt verlangte, die Verantwortung vorzutäuschen. Der Bericht über das Viele das ich davon gelernt habe bedürfte ein für diesen Brief allzu weites Feld. Herzliche Grüße auch an Ihre Frau und an Ihre Besucher. Jochen Meyer