To: Niels Holger Nielsen From: Ernst Meyer Subject: am 3. August 2018 Date: Thu, 2 Aug 2018 17:35:41 -0400 Lieber Herr Nielsen, Dies ist die dritte Teilsendung meiner Antwort auf Ihren so anregenden Brief. Sie schreiben: I. In Lügenzeiten sterben auch die Mythen, aus denen die Menschen die lebensfreundlichen Narrative schöpfen. II. Die schlechte Fiktion in den alltäglichen Lügen infiziert den Quellgrund der Erzählungen von Menschen und Göttern, von Bildern, Metaphern und Mythen, die bunte Welt der Vielgestaltigkeit, das Spiel von Dichtung und Wahrheit. Ihre Beobachtung dass mit der menschlichen Gesellschaft nicht alles in Ordnung ist scheint mir selbstverständlich. Diese allzumenschliche Fehlerhaftigkeit ist jedoch so verwickelt, dass ich scheue, jedenfalls in diesem Briefe, auch nur den Anfang einer Diagnose zu versuchen. Ich stehe unter dem Eindruck dass wir Menschen von jeher über unser Zusammenleben eine Verzweiflung empfinden die hin und wieder in religiösen Bestrebungen zum Ausdruck kommt. Ihre Klagen erinnern mich an die Bachkantate #52, "Falsche Welt ich trau dir nicht". Statt des Versuchs den Text zusammenzufassen, will ich ihn abdrucken: Kantate 52 1. Sinfonia 2. Rezitativ S Falsche Welt, dir trau ich nicht! Hier muß ich unter Skorpionen Und unter falschen Schlangen wohnen. Dein Angesicht, Das noch so freundlich ist, Sinnt auf ein heimliches Verderben: Wenn Joab küßt, So muß ein frommer Abner sterben. Die Redlichkeit ist aus der Welt verbannt, Die Falschheit hat sie fortgetrieben, Nun ist die Heuchelei An ihrer Stelle blieben. Der beste Freund ist ungetreu, O jämmerlicher Stand! 3. Arie S Immerhin, immerhin, Wenn ich gleich verstoßen bin! Ist die falsche Welt mein Feind, O so bleibt doch Gott mein Freund, Der es redlich mit mir meint. 4. Rezitativ S Gott ist getreu! Er wird, er kann mich nicht verlassen; Will mich die Welt und ihre Raserei In ihre Schlingen fassen, So steht mir seine Hilfe bei. Auf seine Freundschaft will ich bauen Und meine Seele, Geist und Sinn Und alles, was ich bin, Ihm anvertrauen. 5. Arie S Ich halt es mit dem lieben Gott, Die Welt mag nur alleine bleiben. Gott mit mir, und ich mit Gott, Also kann ich selber Spott Mit den falschen Zungen treiben. 6. Choral In dich hab ich gehoffet, Herr, Hilf, daß ich nicht zuschanden werd, Noch ewiglich zu Spotte! Das bitt ich dich, Erhalte mich In deiner Treu, Herr Gotte! Sie fragen nach meinen Sonetten. Die bisherige Sammlung ist im Internet verfügbar. http://home.earthlink.net/~ej4meyer/20151120_Sonnets01.pdf Das letzte, Nr. 223, kam zustande erst letzte Woche bei Gelegenheit unsres Besuchs auf dem Bauerngut in Wisconsin meiner im November 2017 verstorbenen Kusine Marion Namenwirth. Mein Sohn und ich waren heute vor einer Woche dorthin geflogen um der Zerstreung der Asche beizuwohnen. Am Abend unterhielt der jüdische Hausherr, nur wenige Jahre jünger als ich, und auch als Kind ein Flüchtling vor den Nazis, er in den Niederlanden, seine verschiedenen Gäste mit einer DVD Wiedergabe auf großem Bildschirm des alten schwarz-weiß Films "Casablanca", laut Nathaniel das berühmteste Erzeugnis in der Geschichte des Kinos. Ich befand mich zurückversetzt in meine Kindergartentage, wo ich, von vorgelesenen Grimms Märchen dermaß verängstigt wurde, dass ich Kopfschmerzen vortäuschte, und das Weite suchte. Letzte Woche aber ergoss sich meine Angst statt in erlogene Kopfschmerzen, in Sonett 223. Es war einst das Vorhaben meines Lehrers Karl Vietor, durch seinen frühen Tod verhindert, ein Buch über das deutsche Sonett zu schreiben. Möglicherweise hätte ich damals als Vietors Assistent viel über das Sonett gelernt. Muss heute bekennen, dass ich mir nie die Mühe gemacht habe, abgesehen von Shakespeare, sonettenkundig zu werden. Auch über dessen Gedichte bin ich mir nicht im Klaren. Wenn es zum Beispiel in Sonnet 30 lautet: When to the sessions of sweet silent thought I summon up remembrance of things past, I sigh the lack of many a thing I sought, And with old woes new wail my dear time's waste: wie deute ich die Dissonanz von "past" und "waste"? soll ich annehmen dass vor vierhundert Jahren, "past" wie "paste" oder "waste" wie "vast" ertönte? - oder dass es ein Fehlreim ist den man entschuldigt weil er ein Dichter ist, so berühmt dass man nichts von ihm bemängelt. Stefan Georges Übersetzungen sind die großartigsten Sonette in deuscher Sprache die ich kenne. Wo meine Sonettenbemühungen in die Literatur eingestuft werden sollten, wenn überhaupt, bekümmert mich nicht. Für Anerkennung bin ich Kandidat auf literarischen so wenig wie auf politischen Gefilden. Aber Briefe an Sie schreibe ich mit Begeisterung, und die Grüße auch an Ihre Frau und and Ihre Besucher gehören dazu. Jochen Meyer